Das Kauferlebnis inszenieren

Gegen den Trend zu surfen ist anspruchsvoll. Retail-Flächen zeitgemäss zu gestalten oder etwa die Forderung nach «publikumsorientierter Erdgeschossnutzung» in unseren Bebauungsplänen attraktiv umzusetzen, ist zum Kraftakt geworden. Und zum Spielfeld für Innovation und Kreativität.

Immobilien und Innovation
Braucht es in Zukunft noch physische Einkaufsorte?
Immobilien und Innovation
Gegen den Trend zu surfen ist anspruchsvoll. Retail-Flächen zeitgemäss zu gestalten oder etwa die Forderung nach «publikumsorientierter Erdgeschossnutzung» in unseren Bebauungsplänen attraktiv umzusetzen, ist zum Kraftakt geworden. Und zum Spielfeld für Innovation und Kreativität.Die Fakten sprechen für sich. Seit 2010 sind in der Schweiz 5000 von 50 000 Verkaufsstellen verschwunden. Im Gegenzug buhlen heute mehr als 10 000 Onlineshops mit Schweizer Domain um die Gunst der Konsumenten. Globale Anbieter wie Amazon oder Aliexpress sind dabei, ihre virtuelle Omnipräsenz lokal zu verankern, und eine neue Generation von Zalando-gestählten Digital Natives steht bereit, um die nächste Vision des Shoppens zu erproben. Realistisch gesehen erhöht sich der Druck auf die Verkaufsflächen sowohl an peripheren als auch in städtischen Lagen weiter. Innovative, kreative Shop-Konzepte helfen da und dort, den Druck zu lindern. Wirklich gefragt sind aber radikale Ansätze oder – neudeutsch ausgedrückt – disruptive Geschäftsmodelle. Für Vermieter von Verkaufsflächen sowie auch für die Behörden heisst dies: Vertraute Denkschemen wie die Forderung nach «publikumsorientierter Erdgeschossnutzung», das Konzept der Umsatzmiete oder die Übergabe der Lokalitäten im Rohbau zu hinterfragen.

Erfolgsparameter Mobilität und Logistik

Ein bewährter Ansatz, um unlösbare Herausforderungen anzugehen, ist das Denken von hinten nach vorne. Zu suchen sind jene Faktoren, die den Erfolg und die Funktion der Verkaufsstellen im Kern prägen. Nüchtern betrachtet korrelierte bis anhin die Attraktivität von Verkaufsstellen mit den Parametern (Kunden-)Mobilität und (Waren-)Logistik. Neu könnten andere Faktoren entscheidend sein.

Im historischen Rückblick prägte der Ausbau des Schweizer Eisenbahnnetzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung. Die Bahn vereinfachte die Logistik für Massengüter und machte die breite Bevölkerung mobiler. Das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren war die Voraussetzung dafür, dass 1899 die Grands Magasins Jelmoli SA in Zürich ihr erstes Warenhaus eröffnen konnte.

In den 60er- und 70er-Jahren veränderte sich das Mobilitätverhalten der Konsumenten erneut. Aufgrund der neuen (Massen-)Automobilität wurde es für Detailhändler und Kunden einfacher, sich in Einkaufszentren entlang der Verkehrsachsen zu treffen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Für den Detailhandel fallen tiefere Mietkosten an. Vor den Toren der Stadt gibt es Platz für ein grösseres Warenlager, und die Warenlogistik vereinfacht sich insgesamt signifikant. Der Konsument profitiert von Gratisparkplätzen, einem grossen Warenangebot auf engem Raum und der Möglichkeit, sein Automobil für den effizienten Grosseinkauf zu nutzen.

Nun verändert sich durch den Online-Handel das Einkaufsverhalten der Kunden erneut dramatisch. Rein funktional betrachtet, macht der E-Commerce den klassischen Point of Sale im Grunde sogar überflüssig. Zentrale Warenlager vereinfachen die Logistik für die Hersteller nachhaltig, und Same-Day-Delivery-Services sind für die Konsumenten eine attraktive Alternative zum Selberabholen. Diese negative Spirale für den traditionellen stationären Handel verstärkt sich indirekt durch den Attraktivitätsverlust des Automobils bei der jüngeren Generation. Verliert das Automobil seine Emotionalität, so wird die Heimlieferung für die Käufer von morgen noch wichtiger. Auf den Punkt gebracht: Die Digitalisierung verändert die Parameter Mobilität und Logistik erneut grundlegend.

Kunden suchen das Besondere

Um der Herausforderung – Verkaufsstellen im Zeitalter des Online-Handels – innovativ zu begegnen, muss das Verhalten der postindustriellen Konsumenten berücksichtigt werden. Die ökonomische Logik der Industriegesellschaft basierte auf Effizienzgewinn durch Rationalisierung, Standardisierung und Optimierung. Anders gesagt, Massenkonsum geht einher mit dem Phänomen, dass die Einzigartigkeit, das Besondere standardisiert werden muss, um es für ebendiese verfügbar zu machen. Was für alle verfügbar ist, wird in letzter Konsequenz wieder durchschnittlich oder normal. Entgegen dieser Logik diagnostiziert der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten» einen Prozess der Kulturalisierung von Arbeit, Konsum und Lebensstilen. Vereinfacht gesagt: Ein standardisiertes Massenprodukt – sei es ein iPhone, ein Sneaker von Nike oder ein Besuch im Starbucks – wird durch seine kulturelle Inszenierung wieder zu etwas Besonderem, Begehrenswertem transformiert.

Die Zukunft der Verkaufsstelle liegt demnach nicht mehr in ihrer primären Funktion als Verkaufspunkt. Der Point of Sale der Zukunft ist vielmehr Showbühne und sozialer Treffpunkt von Marken, Produkten und Konsumenten. Im Fokus steht nicht mehr der Verkauf, sondern die Ware, das Produkt, die Dienstleistung, welche in einer attraktiven Umgebung inszeniert wird. Der Laden wird zur Spielwiese für den Kunden, der mit den Produkten experimentiert oder diese nach seinen Bedürfnissen kombiniert. Verkaufsanimatoren unterhalten sich mit den Konsumenten und beraten diese informell. Influencer werden sich im Verkaufstempel der Zukunft mit ihren Followern treffen, um als Marken-Zeremonienmeister im physischen Kontakt mit den Konsumenten für ihre Sponsoren zu werben.

Renaissance der Innenstädte

Vieles spricht beim eben skizzierten Szenario für eine neue Attraktivität der Verkaufsflächen in den Städten. Städte wie Barcelona, Berlin oder Zürich inszenieren und pflegen schon heute ihre Einzigartigkeit. Mit ihren Flanier-, Vergnügungs- und Restaurantzonen sind sie kulturell wertvolle Bühnen, um dem Kunden ein emotionales Gesamterlebnis zu bieten.

In Zürich sind schon länger hybride Verkaufskonzepte erkennbar, die den Verkauf emotionalisieren. Das Restaurant Les Halles mit seinem integrierten Feinkostgeschäft, die Pop-up-Filiale von Ikea an der Zürcher Bahnhofstrasse, der Tesla-Shop in der Nähe des Paradeplatzes, die Verquickung von Service- und Warenangeboten bei Transa respektive von Showroom, Ausbildung und Coworking-Space bei Digitec und Apple sind Vorboten für eine neue Attraktivität der Innenstadt.

Zugegeben, meist dominiert noch das traditionelle Verständnis vom «Kerngeschäft». Vielfach sehen wir eher ein Shop-in-Shop-Konzept als eine Fusion zu einem neuen Wertangebot. Gemeinsamer Nenner dieser Konzeption ist, dass sie dem Kunden ein neues Erlebnis bietet. Sie präsentiert die Ware in einem besonderen Umfeld; im Wissen, dass weder der funktionale Kaufakt noch die Warenlieferung in Zukunft vor Ort erfolgen.

Freizeit- statt Einkaufserlebnis

In diesem veränderten Konsumumfeld stehen die klassischen Einkaufszentren vor der herausfordernden Aufgabe, sich neu zu positionieren. Da ihnen das kulturelle Kapital der Städte fehlt, müssen sie die Konsumenten mit neuen Attraktionen überzeugen. Die Mall of Switzerland kombiniert in einem architektonisch modernen Umfeld Einkaufen und Lieferservice mit Freizeiterlebnissen und Gastronomie. Im mentalen Setting künftiger Kunden ist die Mall of Switzerland weniger als Shopping-Center denn als Einkaufsort mit Freizeiterlebnis verankert. Eine stehende Welle, Bodyflying, Klettergärten oder Wellness-Oasen bilden bei den Einkaufs-Centern das emotionale Fundament. Sie animieren zum Besuch des Centers und der Verkaufsflächen.

Veränderung als Chance

Gegen den Trend zu surfen kann für wenige erfolgreich sein. Suchen wir nach Lösungen für Verkaufsstellen, gilt es die funktionale Stärke des E-Kanals zu akzeptieren. Den Laden der Zukunft als Begegnungsort und Showbühne zu denken heisst für Investoren, Architekten, Bauherren, Immobilienbesitzer, Möbelbauer und Designer, sich neu zu orientieren. All diese Protagonisten der Immobilienbranche müssen neue Raumangebote, Ausbaustandards, Inneneinrichtungen und Vermietungsmodelle entwickeln. Vergessen wir den Point of Sale. Führen wir die Diskussion über den künftigen POP, den Point of Presentation, um den Verkaufskonzepten von morgen gerecht zu werden.

Begegnung statt Verkauf

Werner Schaeppi illustriert die Vision des künftigen Einkaufsorts am hypothetischen Beispiel eines Shops für Musikbedarf:

«Der Musik-Store der Zukunft ist ein Treffpunkt für Musiker und Musikinteressierte. Die Einrichtung gleicht mehr einem geschmackvoll gestal-teten Wohnraum oder einem edlen Übungsraum als einem Verkaufsgeschäft. Es gibt eine Kaffeebar und gemütliche Sitzgelegenheiten. Eine Auswahl sorgfältig sortierter Instrumente lädt zum ungestörten Ausprobieren ein − vielleicht sogar in einer spontanen Jam-Session mit andern Kunden. Der Betreuer des Ladens versteht sich weniger als Verkäufer denn als Ratgeber und Experte: Er zeigt dem Kunden die Besonderheiten und Vorteile der Instrumente, gibt musikalische Tipps zum Spiel des Kunden und weist auf Alternativen und passendes Zubehör hin. Er lässt dem Kunden Zeit, alles in der Praxis zu erproben.

Ob der Kunde das Instrument gleich im Laden kauft oder vielleicht auch erst Monate später zu Hause online ordert, fällt nicht ins Gewicht. Denn der Laden finanziert sich nicht aus den vor Ort erzielten Verkäufen, sondern aus den jährlichen Merchandising-Beiträgen der präsentierten Hersteller, die diese wiederum nach dem Gesamtumsatz der Verkaufsregion bemessen. Der Laden von einst ist vom Verkaufspunkt zum Erlebnisort mutiert, zum Ort der Begegnung und zur perfekten Bühne für Marken, Produkte und Dienstleistungen.

Diese Vision lässt sich meines Erachtens sinngemäss problemlos auch auf viele andere Konsumbereiche applizieren.»

Drei Beiträge zu Immobilien und Innovation

In einer dreiteiligen Serie diskutiert der Autor Werner Schaeppi das Thema Innovation im Kontext von Wohnungsmarkt, Büro- und Gewerbeimmobilien sowie Verkaufsflächen in städtischen und peripheren Lagen. Die Entwicklung der Schweizer Immobilienwirtschaft basiert auf ihrem über Jahrzehnte aufgebauten Wissen über Märkte und Kunden. Erfahrungen und Tradition waren und sind Garant für ihren Erfolg. Die Digitalisierung und die Dynamik des technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels fordern nun ein neues Denken. Angesichts der globalen Kraft der Veränderungen muss die Schweizer Immobilienwirtschaft innovativer werden. Innovation ist eine Investition in die Zukunft, die es − wie jede andere Ressource − zu managen gilt.

Immobilien und Innovation
Vieles spricht für eine neue Attraktivität der Verkaufsflächen, doch meist dominiert noch ein traditionelles Verständnis.
Dr. Werner Schaeppi
Dr. Werner Schaeppi berät und betreut als Mitinhaber der Zuger Kommunikations-Agentur Creafatory AG und des Forschungsinstituts mrc, research & consulting ag, die Schweizer Immobilienbranche in Fragen der Kommunikation und des Innovations-Managements.
Dr. Mauro Frech
Co-Autor Dr. Mauro Frech ist Researcher und Profiler mit über 25 Jahren Erfahrung. Als Historiker und Sprachwissenschaftler prägen die kreative Distanz zur Forschung und die kontextorientierte Analyse seine Arbeit. Seit 1997 leitet er das Forschungs- und Beratungsinstitut mrc.
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