Sport- und Freizeitbauten  – Gebaute Massentauglichkeit

Manuel Pestalozzi hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Von 1997 bis 2013 war er Redaktor von «Architektur +Technik». Anschliessend gründete er die Einzelfirma Bau-Auslese, die sich der Informationsvermittlung widmet.

Manuel Pestalozzi
Manuel Pestalozzi hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Von 1997 bis 2013 war er Redaktor von «Architektur +Technik». Anschliessend gründete er die Einzelfirma Bau-Auslese, die sich der Informationsvermittlung widmet.
Sport- und Freizeitbauten

Vor einigen Monaten hatte ich die Gelegenheit, San Giovanni Rotondo in Apulien zu besuchen. Hauptattraktion für Architekturinteressierte ist die Wallfahrtskirche San Pio da Pietrelcina, die vom Stararchitekten Renzo Piano entworfen wurde. Der halbkreisförmige Sakralbau, er bietet 6500 Personen Platz, hat die Form einer riesigen Muschel; vom Rand steigt die Dachschale auf, und der Boden fällt leicht ab, in Richtung der Glaswand mit dem Altar. Beidseits des nach Osten orientierten Hauptportals steigen die Reihen der Sitzbänke aufwärts, bis zur Stelle, wo Dachschale und Boden zusammentreffen.Erst auf den zweiten Blick erkennt man in der Schale eine regelmässige Abfolge von Fugen, welche diskret rechteckige Bügel andeuten. Ein Kontrollblick von aussen bestätigt die Vermutung: Hier lassen sich grosse Ausschnitte der unteren Schalenpartie hochfahren. Aha, denkt der Betrachter, die Wallfahrtskirche lässt sich entfluchten! Und als zweites: Naja, der Architekt hatte ja Erfahrung mit Sportstadien. Renzo Piano baute von 1988 bis 1990 das Stadio San Nicola in Apuliens Hauptstadt Bari. Er weiss mit Menschenmassen umzugehen.

Im Zaum gehaltenes Publikum

Die Bezeichnung einer grossen Menschenmenge als Masse stammt aus dem späteren 19. und früheren 20. Jahrhundert. Karl Marx und Friedrich Engels benutzten den Begriff, um die Unterdrückten dieser Erde zu kategorisieren – und zu anonymisieren. Gustave Le Bon und Sigmund Freud prägten den Begriff der klassischen Massenpsychologie. Und der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti befasste sich jahrzehntelang mit dem Zusammenhang von Masse und Macht. Viele Sport- und Freizeitbauten machen diesen Zusammenhang körperhaft und versuchen ihn räumlich einzufassen. Baufachleute tragen bei der Planung und Realisierung solcher Projekte dazu bei, dass sich die Massen wunschgemäss lenken lassen und unter Kontrolle bleiben.

Das ist keine neue Aufgabe; schon in der Antike war den Baumeistern der grossen Theater und Zirkusse bewusst, dass sie Massenmanagement betreiben. Bauten wie das Kolosseum oder der Circus Maximus in Rom zeigen exemplarisch, dass die Architektur für Massenveranstaltungen das Publikum nicht nur zusammenfasst. Sie hat die Massen auch zu leiten. Im Idealfall haben die vielen Leute auf ihrem Weg anregende sinnliche Raumerlebnisse. Zu diesen Erlebnissen gehören auch der Auf- und der Abmarsch vor dem betreffenden Grossbau, wo sich die Masse bildet und wieder auflöst. Dies macht eine geräumige, überblickbare Vorzone nötig – wie sie übrigens auch San Pio da Pietrelcina besitzt.

Kein Risiko, bitte

Bisweilen scheint es, dass die Ansprüche an die Massentauglichkeit in den letzten Jahren gewachsen sind. Die Tragödien von 1985 im Heysel-Stadion in Brüssel und von 1989 im Hillsborough Stadion in Sheffield waren auf gruppendynamische Ereignisse zurückzuführen. Massen gerieten ausser Kontrolle, mit tragischen Konsequenzen. Ein Grund für die katastrophalen Folgen waren auch die Strategien der Eingrenzung. Sie führten zu einer Art Staueffekt.

Dieses Staurisiko gilt es einzudämmen – Stadioneingrenzungen brauchen eine Art Sollbruchstellen. Zudem wurden Sortier- und Dosiersysteme verfeinert. So versucht man, die Massenströme mittels «Vereinzelung» zu bändigen. Management und Gliederung der Masse sind sektoriell organisiert, und es wird darauf geachtet, dass sich Fluchtwege je Teilzone bedarfsgerecht öffnen lassen. Das Ziel scheint zu sein, die Dynamik auf einen beherrschbaren Massstab herunterzubrechen. Damit Masse nicht mehr zu viel Macht entfesseln kann. ●

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