Siedlungs- und Städtebau – Ein Haus für ein Jahrhundert
Uzwil hat ein neues Gemeindehaus. Das Projekt Löwenherz vereint die funktionalen Anforderungen bezüglich Verwaltungsabläufen und übersichtlicher Besucherführung.

Das Löwenherz
Das neue Gemeindehaus mit seinen zwei ineinander verwobenen Volumen erinnert an die zwei Protagonisten Krümel und Jonathan der Geschichte «Die Brüder Löwenherz» von Astrid Lindgren, die gemeinsame Abenteuer erleben. Im Rahmen des anonymen Projektwettbewerbs wurde bewusst der Namen auf Löwenherz verkürzt, weil dies der räumlichen Idee der inneren Halle entspricht. Das Löwenherz versinnbildlicht als innere Halle mit pulsierendem Leben von Bürgern und Gemeindeverwaltung einen Ort der Begegnung und des Austausches. Der Projektname fasst auf mehreren assoziativen Ebenen die relevanten Entwurfsideen für das Gemeindehaus zusammen. Das Gemeindehaus ist ein Haus für die Bevölkerung von Uzwil. Es ist einerseits ein Zweckbau für die Gemeindeverwaltung, andererseits ein Begegnungsort zwischen Bürgern und Verwaltung. Das Raumkonzept wird diesem kommunikativen Anspruch der Nutzung gerecht. Der Besucher bewegt sich in einer übersichtlich gestalteten Raumabfolge durchs Löwenherz, von der erdgeschossigen Eingangshalle mit der Rezeption bis hin zu den einzelnen Schaltern der Abteilungen in den Obergeschossen.
Die Umgebung des neuen Gemeindehauses gliedert sich in drei Teilbereiche: den repräsentativen Gemeindehausplatz mit Glasornament und ausdrucksstarken mehrstämmigen Solitärbäumen, den Uzegarten und den rückwärtigen Parkplatz. Der Gemeindehausplatz ist ein Ort der Begegnungen und des Verweilens und öffnet sich zum höhergelegenen Zentrum. Die reduzierte Gestaltung lässt Raum für vielfältige Nutzungen wie Apéros, Weihnachtsmärkte oder Versammlungen. Mit hochwertigen Materialien, bewusst eingesetzten Ausstattungen und Gehölzen werden behagliche Aussenräume mit hohem Aufenthaltswert geschaffen und eine klare Adressbildung generiert.
Raumfolge und Nutzungsverteilung
Der Besucher gelangt vom Zentrum Uzwil über die Lindenstrasse auf den Gemeindehausplatz, von wo er die grosszügige Eingangshalle mit der Rezeption und den Schaltern des Einwohneramtes betritt. Von der Eingangshalle aus führt der Weg weiter über das natürlich belichtete Treppenhaus vorbei am Löwenherz zu den Abteilungen in den Obergeschossen. Die Wände der Erschliessung sind in Sichtbeton gehalten, eine Brettschalung verleiht dem harten Beton eine feine Struktur. Der Publikumsbereich ist hell und freundlich gestaltet. Die in Eichenholz gehaltenen Schalter- und Besprechungszimmerfronten zeichnen die Adressen der öffentlichen Bereiche einladend. Sie sind verbindendes Element zwischen Kunden und Abteilungen. Ansonsten besteht zwischen Besuchern und Mitarbeitenden eine räumlich klare Trennung mit einem Zutrittssystem. Die Schalteranlagen gewährleisten für Kunden die Diskretion bei vertraulichen Angelegenheiten, die Kundentheken trennen baulich den Mitarbeiter- vom Kundenbereich. Zusätzlich werden Schalter einzelner Abteilungen aus Sicherheitsgründen mit einer Glastrennung ausgestattet, bei allen anderen Schaltern lässt sich dies bei Bedarf nachrüsten.
Die Anordnung der Abteilungen und Schalteranlagen entspricht dem betrieblichen Ablauf. Durch die räumliche Nähe von verwandten Abteilungen werden Synergien genutzt und eine übergreifende Zusammenarbeit ermöglicht. Die Abteilungen gruppieren sich um die beiden inneren Kerne. Die statische Struktur lässt Veränderungen in der Raumzonierung in den Abteilungen zu, denn im Grundsatz sind nur die Fassade und der Gebäudekern tragend ausgebildet. Die raumtrennenden Wände innerhalb der Abteilungen sind nicht tragend und können sich wandelnden Nutzerbedürfnissen angepasst werden. Der Personalaufenthaltsbereich und das Traumzimmer sind im Dachgeschoss angeordnet. Letzteres zeichnet sich durch seine Raumproportion mit Überhöhe, Oberlicht und aufwendiger Auskleidung mit einer Stickerei aus und bildet mit der Dachterrasse einen stimmigen Abschluss der Raumfolge.
Die Rezeption ist Ansprech- und Auskunftsstelle im Haus und soll das Zusammenspiel von Verwaltung und Kunden massgeblich verändern. Kunden wie auch Mitarbeitende erhalten so an einem zentralen Ort im Haus bereits eine Vielzahl von unterschiedlichen Dienstleistungen, ein Aufsuchen der jeweiligen Abteilungen entfällt. Das Lichtbild wird saisonal mit unterschiedlichen Bildern bespielt. Mittels integriertem Brandfall-Rollladen wird der Brandabschnitt zwischen dem Foyer und der Abteilung sichergestellt.
Im Grundsatz wurde bei der Ausgestaltung der Arbeitsplätze weitgehend auf Einzelbüros verzichtet. Damit sollen der Flächenbedarf pro Arbeitsplatz sowie die Arbeitsabläufe optimiert, andererseits die direkte Kommunikation zwischen den Mitarbeitenden gefördert werden. Die mit 12 Quadratmetern klein gehaltenen Einzelbüros sind Mitarbeitenden in leitender Funktion vorbehalten.
Fassade und Konstruktion
Beim neuen Gemeindehaus handelt es sich um einen klassischen, aussen gedämmten Massivbau in Stahlbeton. Die tragende Struktur besteht aus den inneren, in Sichtbeton gehaltenen Kernen sowie der Fassade; letztere sorgt für die horizontale Stabilität. Im Bereich der Eingangshalle werden die Decken über ein Scheibentragwerk abgefangen. Die Fundation erfolgte flach. Aufgrund der Grundwasserverhältnisse wurde das Untergeschoss als monolithisches Bauwerk im System «weisse Wanne» erstellt. Die innere Raumaufteilung erfolgt weitgehend mit nicht tragenden Wänden in Leichtbauweise, wodruch die Flexibilität und Anpassbarkeit der Raumaufteilung sichergestellt wird. Im Erdgeschoss wurde die Fassade mit einem Sockel und Fenstergewänden aus vorfabrizierten Betonelementen in Weisszement sowie einer äusseren gemauerten Backsteinschale erstellt. In den darüberliegenden Geschossen kommt ein hinterlüftetes Putzträgersystem zur Anwendung. Die gliedernden Elemente wie Fensterbänke, Sturzbänder und Dachrandabschlüsse wurden ebenfalls mit vorfabrizierten Betonelementen in Weisszement erstellt. Das Sockelgeschoss sowie die Brüstungsbänder in den Obergeschossen wurden mit einem horizontalen Besenstrich verputzt und heben sich damit klar von den Feinputzflächen zwischen den Fenstern ab. Die Kastenfenster mit Lüftungsflügel setzen in der verputzten Fassade Akzente und verleihen dem Verwaltungszentrum einen angemessen repräsentativen Ausdruck. Zugleich kann dadurch ein witterungsunabgängiger und geschützter Sonnenschutz in Form einer textilen Senkrechtmarkise sichergestellt werden. Die äusseren Metallbauteile sind in Permalux gehalten – eine Oberflächenbehandlung, welche Tiefe verleiht und je nach Lichteinfall anders in Erscheinung tritt.
Nachhaltigkeit und Gebäudetechnik
Die gewählte Baustruktur, die gewählten Baumaterialien und die gute Tageslichtnutzung in den Erschliessungszonen garantieren einen sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen und eine angenehme Behaglichkeit. Die hohe Qualität der thermischen Gebäudehülle garantiert den zertifizierten Minergie-Standard. Die Wärme- und Kälteerzeugung erfolgt mittels erneuerbarer Energieträger mit einer Erdsondenwärmepumpe und sechs Erdsondenbohrungen. Die Wärmeabgabe erfolgt über eine Fussbodenheizung mit Einzelraumregulierung. Zur Vermeidung von sommerlichen Übertemperaturen wurde nebst baulichen Massnahmen wie hochgedämmter Gebäudehülle und einem witterungsunabhängigen Sonnenschutz zusätzlich eine aktive Kühlung mittels Fussbodenheizung in Kombination mit der Erdsondenwärmepumpe im Sommer vorgesehen (Freecooling), und die Frischluft wird über ein Erdregister von 45 Metern Länge natürlich vorgekühlt. Sämtliche Räume werden mechanisch be- und entlüftet (Hygienelüftung) und verfügen zusätzlich über Fensterflügel für eine natürliche Belüftung. Auf den Dachflächen ist eine Photovoltaikanlage mit einer Fläche von 200 Quadratmetern installiert. ●
Bautafel

Bauherr Gemeinde Uzwil
Architektur Raumfindung Architekten ETH BSA SIA, Rapperswil
Bauleitung Schertenleib Baumanagement, St. Gallen
BauingenieurAerni + Aerni Ingenieure AG, Zürich
ElektroplanungZweifel AG, WiI
HLS-PlanungCalorex AG, Wil
Landschaftsarchitektur Atelier TP, Rapperswil
Bauphysik, Akustik Gartenmann Engineering, Zürich
BaumeisterStutz AG, Uzwil
Von der Stickerei zum Löwenherz
Das neue Gemeindehaus steht an einem geschichtsträchtigen Ort. An jener Stelle, an der sich nun der Stickereiplatz 1 befindet, entstand ab 1840 eine Mühle. 1872 wurde zur Sicherstellung der Wasserversorgung für den Antrieb der Wasserräder, später der Turbinen, im südwestlichen Bereich des neuen Gemeindehauses ein grosser Mühleweiher erstellt. In den darauf folgenden Jahrzehnten entstand aus der Mühle die Schifflistickerei «Schiffli», aus dem Mühleweiher der Schiffliweiher. Komplettiert wurde die Schifflistickerei 1902 mit einem Backsteinbau entlang der Uze, welcher 2015 dem neuen Gemeindehaus wich. Die Stickerei stellte in den 1930er-Jahren den Betrieb aufgrund der Krise in der Textilindustrie ein. Seither wurden die Gebäude anderweitig genutzt . Mit der Verbreitung des Stroms verlor auch der Schiffliweiher seine Bedeutung und wurde im Verlauf der Zeit zugeschüttet. An diese textile Vergangenheit wird mancherorts im Gemeindehaus erinnert. Die Silhouette einer 100-jährigen Schifflistickerei aus den Beständen des St. Galler Textilmuseums begleitet den Besucher auf seinem Rundgang durch das neue Gemeindehaus – als Glasornament auf dem Gemeindehausplatz, als Fenster- und Türverblendungen oder im mit einer Stickerei ausgekleideten Trauzimmer im obersten Geschoss.







