Weiterbauen – Richtige Strategien für einen Eingriff

In der Architektur gewinnt das Thema Weiterbauen mehr denn je an Aktualität. Denn die Zahlen stellen klar: Die Schweiz ist gebaut. Nur noch etwa ein Siebtel der Bauzonen ist unbebaut. Die meisten Aufträge und Aufgaben für Planer werden sich in den nächsten Jahren im Bestand ergeben.

Carmen Gasser Derungs
Prof. Carmen Gasser Derungs, dipl. Innenarchitektin HfG/VSI.ASAI. MAS ZFH in Design Culture, hat in Zürich und Chicago Innenarchitektur und Szenografie studiert. Ihr Büro führt sie zusammen mit Remo Derungs in Zürich und Chur. Seit 2011 ist sie zudem als hauptamtliche Dozentin am Institut für Innenarchitektur (IIA) an der Hochschule Luzern tätig. Carmen Gasser Derungs ist Co-Leiterin von Das Gelbe Haus Flims.
Weiterbauen

In der Architektur gewinnt das Thema Weiterbauen mehr denn je an Aktualität. Denn die Zahlen stellen klar: Die Schweiz ist gebaut. Nur noch etwa ein Siebtel der Bauzonen ist unbebaut. Die meisten Aufträge und Aufgaben für Planer werden sich in den nächsten Jahren im Bestand ergeben. Von den rund 1,7 Millionen Gebäuden mit Wohnnutzung in der Schweiz sind fast zwei Drittel vor 1981 realisiert worden. Ein bedeutender Teil stammt sogar aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, und solche Gebäude haben dringenden Sanierungsbedarf. Die Frage ist nur, wie? Was heisst das für die Architektur und die Innenarchitektur? Welche Strategien sind richtig, um ein Weiterbauen in Angriff zu nehmen? Welches sind die Ansätze und Herausforderungen? Was bedeuten heute Begriffe wie Authentizität, Inspiration oder Referenz für das Bauen im Bestand? Und nicht zuletzt: Wie müssen diese Gebäude materialisiert und umgebaut werden, damit sich die Nutzer darin wohlfühlen?

Zeitgemässe und gestalterische Eingriffe

Jede Massnahme greift in die Geschichte des Ortes ein. Sie kann Teile der Geschichte zum Verschwinden bringen, sie umschreiben, hervorheben oder sie selbstverständlich in etwas Neues und Zeitgemässes überführen. Mit unserer Arbeit versuchen wir, mit zeitgemässen, gestalterischen Eingriffen historischen Bauten ein zweites oder auch ein drittes Leben einzuhauchen, ohne dass die Vergangenheit verleugnet wird. Wir versuchen, aus Traditionen und Bestehendem zu lernen und mit Respekt vor der Geschichte weiterzubauen. Unser Anspruch ist, dass etwas Neues besser wird als der Istzustand – oder zumindest gleich gut. Wichtig erscheint uns dabei, dass bestehende Bauten nicht statisch konserviert werden, sondern lebendig erhalten bleiben. Das heisst, dass sie auch im 21. Jahrhundert für Bewohner und Nutzer aktuell und attraktiv erscheinen, sodass die Menschen gern in diesen Bauten wohnen und arbeiten und sich für ihren Erhalt und ihr Weiterbestehen einsetzen – anstatt Neubauten zu fordern. Und diesen Wert müssen wir Architekten und Innenarchitekten mit unserer Arbeit auch Laien und Politikern erfahrbar machen. Denn unsere gebaute Identität betont und beeinflusst auch unser gesellschaftliches Selbstverständnis. Schon Winston Churchill sagte 1943 in einer Rede vor dem House of Commons: «First we shape our buildings, then they shape us.»

Beeindruckendes Beispiel

Ein für mich noch heute beeindruckendes Beispiel eines gelungenen Eingriffs in den Bestand ist das Haus Zschaler in der Churer Altstadt. Der 1995 verstorbene Bündner Architekt Rudolf Olgiati baute 1977 ein Wohnhaus in dieser spätgotischen Häuserzeile um. Er veränderte die Struktur des Hauses auf der Südseite und im Inneren, er baute im Erdgeschoss ein Café ein, das heute noch in Betrieb ist, aber er liess die reich bemalte Fassade zur Oberen Gasse fast unberührt. Rudolf Olgiati verstand es hier, im Inneren historische Elemente in eine zeitgenössische Formensprache zu übersetzen, die mehr als vierzig Jahre später noch immer überzeugt. Gleichzeitig gelang es ihm, den Geist des historischen Hauses bis weit nach seinem eigenen Tod zu erhalten. Und genau das verstehe ich als unsere Aufgabe.

Wir Architekten und Innenarchitekten müssen versuchen, so zu sanieren und weiterzubauen, dass unsere Eingriffe einst selbst Teil der Geschichte werden. Im besten Fall erklären spätere Generationen unsere Projekte als erhaltenswert, und sie bauen diese nach ihren Bedürfnissen und ihrem Bauverständnis immer weiter. ●

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