«Tagträume der Architektur»

Angenommen, es gäbe keine Sachzwänge – was wäre Ihre Vision für eine bauliche Zukunft der Schweiz? Diese Frage wurde Fachleuten aus Architektur, Städtebau, Raumplanung, Landschaftsarchitektur, Kunst und Kommunikation im Rahmen eines Gedankenexperiments gestellt.

Sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen heisst, Visionen zu entwickeln, Herausforderungen zu antizipieren, neue Potenziale zu erkennen und Lösungen zu kreieren. Über das Morgen nachzudenken, ist aber immer auch eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die uns zwingt, unsere Werte und Prioritäten zu überdenken und das «Jetzt» zu hinterfragen. Das Gedankenexperiment «Tagträume der Architektur» wurde in Form von Expertengesprächen geführt. Im Fokus stand die Wirkung von Architektur und Städtebau als kulturelle, ästhetische und soziale Kraft und somit als prägender Bestandteil unserer Lebenswelt.

Phantasie im Geist der Zeit

Die Gespräche ermöglichten, eine Art Auslegeordnung unserer baulichen Lebenswelt im Hinblick auf heutige und antizipierte Bedürfnisse und Erfordernisse herzustellen und dabei einzelne Elemente spielerisch neu zu mischen. So sind Ideen zur Urbanisierung der alpinen Bergwelt, zur Renaturierung des Schweizer Mittellandes oder zur Aufwertung der Agglomerationen entstanden. Was aber dabei herauskommt, wenn die Phantasie spielen darf, spricht immer auch für den Geist einer Zeit. Und so verwundert es nicht, dass angesichts der Komplexität der heute anstehenden Herausforderungen viele Visionen für die Schweiz von morgen lediglich wie Lösungen für die heutige Schweiz anmuten. Dennoch liefern sie wertvolle Impulse, indem sie pragmatische Überlegungen, Ideen und Lösungsansätze sowie Forderungen an die Politik und Gesellschaft formulieren.

Planungspartnerin Natur

Der Landschaftsarchitekt Christian Tschumi etwa versteht die Natur als Planungspartnerin. Tiere und Insekten sollen an unserem Kulturraum Anteil haben, standortgerechte Pflanzen gedeihen, Bäche sich ihren Lauf bahnen, Regenwasser so lange wie möglich im Boden verbleiben. Tschumi plädiert dafür, mit behutsamen Eingriffen standortgerechte biologische Vielfalt entstehen zu lassen. Hat sich erst einmal eine natürliche Balance eingestellt, würden nach Tschumi auch die Unterhaltskosten reduziert, sodass man quasi mit Rückenwind gärtnern könne.

Über wertvolle Freiräume denkt auch der Vordenker Thomas Held nach. Held hinterfragt Regelbauweise und Ausnutzungsziffer und beklagt, dass die kleinräumige Betrachtung einzelner Perimeter eine sinnvolle Nutzungsdurchmischung verhindere: «Wenn wir einfach bei jedem grösseren Haus gleichmässig Abstand fordern, bringt das den Menschen nicht viel. Oft entstehen tote Räume, die nicht als Freiraum funktionieren. Ich denke, die Menschen würden gerne akzeptieren, mal 200 Meter zu Fuss zu gehen, wenn sie dafür einen belebten Platz oder einen Park vorfinden», so Held. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Architekt Nicola Nett. Er plädiert dafür, Baumassen konzentriert zu bündeln, statt flächendeckend mittelmässige Bebauungen zu etablieren: «Man sollte an die Grenzen des Möglichen gehen, um Freiräume zu schaffen.» Als Beispiel führt er den New Yorker Central Park an oder schlägt vor, Infrastrukturbauten wie eine Turnhalle in den Untergrund zu verlegen.

Hängende Gärten, Theater im Berg

Der intelligente Umgang mit der begrenzten Ressource Raum geht beim Szenografen Remo Arpagaus noch einen Schritt weiter. Arpagaus will unproduktives Land als Siedlungsgebiet erschliessen und mit Häusern, die sich an den Berg lehnen, hängenden Gärten und Wasserfällen ein Leben in der Vertikalen organisieren. Wohnhäuser, Schulen und Gewerbebauten hätten einen herrlichen Panoramablick, Infrastruktur wie Lagerhallen, Urban-Farming-Anlagen, Kino und Theater könnten im Innern des Bergs untergebracht sein. Zu phantastisch? Einen ähnlichen «Tagtraum der Architektur» setzten bereits die Inkas mit Terrassenlandwirtschaft und einem ausgeklügelten Bewässerungssystem im peruanischen Hochgebirge um. Arpagaus sieht die heutigen Zukunftsszenarien in veralteten Idealen wie technologischen Verheissungen, Fortschrittsglaube, Individualismus und Selbstverwirklichung gefangen. Für ihn ist es an einer neuen Generation, deren Mantra nicht «immer mehr, immer höher, immer besser, immer schöner» laute, Visionen für eine bauliche Zukunft der Schweiz zu entwickeln.

Die Ressource Raum ist begrenzt und bedarf eines intelligenten Umgangs. Illustrationen: Nina Dornbusch

Hoch hinaus in der Agglomeration

Ein Umdenken schwebt auch dem Kommunikationsspezialisten Christoph Wey vor, wenn er über die Zukunft des öffentlichen Raums jenseits von Konsum, Entertainment und Selbstinszenierung nachdenkt. Wey plädiert für den Luxus, in nicht kommerzielle öffentliche Räume zu investieren und damit Teilhabe und sozialen Austausch zu fördern – nicht zuletzt deshalb, weil unsere Demokratie danach verlangt. So profitiere die Stadt Zürich noch heute von der Weitsicht eines Alfred Escher oder Arnold Bürkli. Das Potenzial für zukunftsfähige Impulse verortet Wey heute aber eher in den Agglomerationen.

Auch Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Emmanuel Tsolakis nimmt die Agglomerationen in den Fokus. Als der gebürtige Grieche in die Schweiz kam, war er von den räumlichen Gegensätzen beeindruckt: «Die Schweiz ist sehr ländlich und sehr städtisch zugleich. Als ich meinen Master an der ETH machte, war alles so ziemlich Hightech – und gleich nebenan grasten die Kühe.» Tsolakis schlägt vor, die wertvollen Gegensätze zu betonen. Er stellt sich vor, mit mutigen Designlösungen und einer Häufung von wirklich hohen Hochhäusern einen spannenden Übergang zwischen Stadt und Landschaft zu kreieren und damit eine reizvolle Identität und kulturelle Aufwertung für Agglomerationen zu schaffen.

In der Studie entfalten sich neben den hier vorgestellten Ideen viele weitere spannende Perspektiven von Stadtentwicklerin Regula Kaiser, Architekt Claudio Tortelli, den Kunstschaffenden Chris Hunter und Lorenz Wiederkehr, Stadtplaner Benjamin Krüger, Immobilienexperte Tobias Achermann und Stadtplanerin Mélanie Jeanneau.

Angesichts der Komplexität der heute anstehenden Herausforderungen gibt es viele Visionen für die Schweiz von morgen.

Zur Publikation

Die von der HIG Immobilien Anlage Stiftung initiierte Studie «Tagträume der Architektur» ist Teil einer Diskursreihe zu aktuellen Themen der Immobilienwirtschaft. Die gleichnamige Publikation ist ab sofort erhältlich. Studie und Publikation wurden von Dr. Werner Schaeppi und Dr. Mauro Frech konzipiert und umgesetzt, die Illustrationen wurden von Nina Dornbusch mittels KI kreiert. Herausgeberin ist die HIG Immobilien Anlage Stiftung, erschienen ist das Buch im Verlag Creafactory.

hig.ch

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