Drunter und drüber

Die Alpen sind die geliebte, gefürchtete, durchbohrte, zerklüftete und mitunter bröckelnde Nord-Süd-Sperre Westeuropas. Anhöhen und Täler bieten Lebensräume, Pässe und Tunnels erlauben es, die topografische Hürde auf Strassen und Schienensträngen zu nehmen.

Manuel Pestalozzi
Manuel Pestalozzi hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Von 1997 bis 2013 war er Redaktor von Architektur + Technik. Anschliessend gründete er die Einzelfirma Bau-Auslese, die sich der Informationsvermittlung widmet.
Alpinbau

Die Alpen sind die geliebte, gefürchtete, durchbohrte, zerklüftete und mitunter bröckelnde Nord-Süd-Sperre Westeuropas. Anhöhen und Täler bieten Lebensräume, Pässe und Tunnels erlauben es, die topografische Hürde auf Strassen und Schienensträngen zu nehmen. Alpinbauten müssen sich mit teilweise widersprüchlichen Anforderungen in einem fragilen und gefährlichen Umfeld auseinandersetzen. Was oben ist, muss über kurz oder lang herunterkommen. Dieses physikalische Prinzip kommt im Gebirge dramatisch zur Geltung. Terrassierungen, Verbauungen, Schutzgalerien, Stand- und Luftseilbahnen gehören zu den Massnahmen, mit denen sich der Mensch mit der Schwerkraft auseinandersetzt. Das Gefälle und das Fallen werden teils als Segen, teils als Fluch verstanden und rufen nach entsprechenden baulichen Massnahmen. Man lässt dem Streben nach unten seinen Lauf, versucht es aber in sichere und geordnete Bahnen zu lenken. Diesem Flachländer-Autor wurde das vor wenigen Monaten auf einer sommerlichen Velotour in Erinnerung gerufen. Sie führte ihn aus dem Domleschg über den Julierpass ins Engadin und über den Albulapass zurück zum Hinterrhein.Die Velotour begann in Tiefencastel und führte zuerst hinauf zum Dörfchen Mon, wo die intakte historische Bausubstanz einen diskreten Tourismus aufnimmt. Dem Oberhalbstein entlang führte die Route dann zur Julierpassstrasse und den traditionellen Durchgangsorten. In Mulegns pries eine Aufschrift am Posthotel Löwen dessen Hausgericht, die Julia-Forellen. Die Ururgrossmutter von Prinz Charles, Papst Paul VI und Albert Schweitzer sollen sie dort genossen haben. Heute wirkt der kleine, vom Passverkehr umbrauste Palazzo aber verstaubt und tot. Nächste Station ist die Staumauer des Lai da Marmorera, hinter ihr liegt ein «technischer See», dem ein Dorf geopfert worden war. Nach dem etwas abgekämpft wirkenden Bivio ähnelt die Strasse einer Murmelbahn: Ein endloser Strom von Fahrzeugen kullert durch die zahlreichen Kehren. Die Julierpasshöhe bringt ein kleines Architekturereignis. Die Kulturorganisation «Origen» baute hier aus Holz einen knallrot gestrichenen Theaterturm.

Umlenken, kanalisieren

Auf der Ostseite des Julierpasses liegt Silvaplana. Von der Strasse aus sieht man bereits die grossen Paläste von St. Moritz. Bevor der Talboden erreicht ist, taucht bei der letzten Kehre ein Tunnelportal auf. Von hier aus lässt sich Silvaplana demnächst durch die Bergflanke umfahren. In den Genuss einer solchen Entlastung kommen bereits Celerina und Samedan. Die Entlastungsstrasse ermöglicht in den historischen Zentren dieser klassischen Tourismusdestinationen ein Verkehrskonzept, das den Strassenraum allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur Verfügung stellt, seien sie nun per Auto, zu Fuss, per Velo oder im Kinderwagen unterwegs. Der Pedaleur war beeindruckt, auch von den schön restaurierten Gebäuden aus der Gründerzeit. Der Überquerung des Albulapasses verdankte er dann noch einen eindrücklichen Blick hinab auf die Baustelle des Bahntunnels, der zwar schon seit 114 Jahren existiert, nun aber eine neue Röhre erhält.

Die Exkursion ins Bündnerland bestätigte, dass sich die Alpen als Lebensraum stets neu behaupten und mitunter auch neu erfinden müssen. Das Leben in den Bergen wird durch die stetig verbesserte Erschliessung erträglicher gemacht – allerdings ist es auch einfacher, loszulassen und in die Weiten des Unterlands wegzuziehen. Die Aufgabe des Alpinbaus wird es deshalb auch weiterhin sein, auf die Vielseitigkeit der Qualitäten und Gefahren der Berglandschaft einzugehen und den Zu- und Abfluss von Naturkräften und Lebewesen zu dosieren.

(Visited 39 times, 1 visits today)

Weitere Beiträge zum Thema

up to date mit dem
Architektur+Technik Newsletter
Erhalten Sie exklusive Trends und praxisnahe Innovationen mit Architektur+Technik –direkt in Ihr Postfach.
anmelden!
Sie können sich jederzeit abmelden!
close-link