Hermetische Hauptstadt, hermetische Macht

Der Soziologe Heinz Schütte und der Fotograf Wolfgang Bellwinkel veröffentlichten 2019 ein Buch über Naypyitaw.

Die Shwedagon-Pagode
Die Shwedagon-Pagode in Yangon ist ständig von Gläubigern überfüllt. Ihr Pendant in Naypyitaw, die Uppatasanti-Pagode, ist hingegen meistens leer. Fotos: Getty Images
Städtebau als politisches Statement
Von Morris Breunig (Interview)
Der Soziologe Heinz Schütte und der Fotograf Wolfgang Bellwinkel veröffentlichten 2019 ein Buch über Naypyitaw. Darin beschreibt Schütte die Gegebenheiten vor Ort und schildert seine Erlebnisse unter anderem mit Bezug auf die ehemaligen Hauptstädte Myanmars.
Im Interview gibt Heinz Schütte Einblick in das Erlebte.Was führte Sie nach Naypyitaw?
Das Goethe-Institut Myanmar hat mich unter seinem damaligen Leiter F. X. Augustin institutionell an Bord genommen. Ausgangspunkt waren meine Recherchen zu Yangon, die 2017 in Berlin als Buch erschienen. Das koloniale Rangun hatte zur Aufgabe, die Bodenschätze und landwirtschaftlichen Produkte Myanmars zwecks europäischer Bereicherung ausser Landes zu schaffen. Den Makel kolonialer Demütigung wurde die Stadt nie los, und als Hauptstadt des unabhängigen Landes wurde sie nie wirklich angenommen. «Wo der Kolonialismus baut, setzt er steinerne Grenzzeichen», schrieb Jürgen Osterhammel einst. Im vorkolonialen Myanmar wurden nur Sakralstätten aus Stein errichtet, selbst die Königspaläste waren aus Holz. Deshalb wollte ich wissen, welche Art von Hauptstadt das Militär, Tatmadaw, das sich seit seiner Gründung durch Aung San und seine Kameraden als Erneuerer der Nation in ihrer Reinheit und Homogenität, wie sie vermeintlich unter den alten Kriegerkönigen bestand, gebaut hat. Denn, so nahm ich an, Naypyitaw würde sich als Zukunftsmodell des Landes präsentieren, wobei Ethnie (Bama als buddhistische Mehrheitsbevölkerung des Landes) und Religion (Buddhismus) Stützpfeiler des Projekts sein dürften.Was fanden Sie vor?
Bama-buddhistische Hauptstädte sind das Zentrum des Universums, der Palastbezirk ist Mount Meru. Es handelte sich ursprünglich um königliche Hof-Festungen, die umgeben waren von weiten vorstädtischen Dorf- und Pagodenanlagen, nicht aber um gewachsene urbane Siedlungsräume. Von hier haben die Bama seit tausend Jahren den Kampf gegen die sie umgebenden Fürstentümer geführt. Auch in Naypyitaw gibt es den Palastbezirk, den Parlamentsbereich in dem riesigen, 7045 Quadratkilometer umfassenden Territorium. Zum Vergleich: Berlin hat 892 Quadratkilometer, das allerdings sehr verdichtete Paris begnügt sich mit 105 Quadratkilometern. Es ist ein von Wildwuchs befreites, überall einsehbares Territorium mit einem überdimensionierten, wenig genutzten, schattenlosen Strassennetz, auf dem man sich immer im labyrinthisch Ungewissen befindet. In der Leere trifft man selten auf Menschen. Falls doch, dann sind es Strassenreiniger und Gärtner, welche die üppigen Anpflanzungen pflegen. Im westlichen Zentrum erweitert sich dieses Netzwerk auf eine etwa 24-spurige Aufmarschstrasse, die eher einer Landebahn für Riesenjets gleicht und die zum Parlament führt; das Ensemble mit prächtigen pagodenartigen Etagendächern liegt auf einer künstlichen Insel. Ministerien verbergen sich hinter Büschen, Bäumen und Parkanlagen. Die Nationalbibliothek mit ihren vielen Computern auf einladenden Arbeitstischen ist menschenleer. Elektrizität ist in Naypyitaw Tag und Nacht verfügbar, anders als im Rest des Landes, wo 70 Prozent der Bevölkerung keinen oder nur gelegentlichen Zugang zu Strom haben; jeder Trampelpfad ist beleuchtet.Die Bewirtschaftung eines solchen Territoriums mutet strapaziös an. Wer ist dafür zuständig?
Dafür sind, soweit für den Besucher sichtbar, Heere von Frauen und Männern zuständig, die sich in der stechenden Sonne der Pflege der Gewächse und dem makellos sauberen Aussehen der Strassen widmen. Denn die endlos scheinenden überbreiten Strassen, die in das hügelig gewellte Land am Rande der Berge hineingeschlagen wurden, sind an den Rändern und auf den protzigen Verteilerringen reich bepflanzt mit Elefantengras, Blätterpalmen und blühenden Büschen, die ständige Bewässerung erfordern. Diese Menschen leben in den wenigen verbliebenen ärmlichen Dörfern oder in versteckten Bambusunterständen. Dort haben sie natürlich kein fliessendes Wasser.

Gibt es dennoch ein gesellschaftliches Leben in Naypyitaw?
Mein Eindruck ist, dass die ins Auge springende Leere Naypyitaws einer planerischen Intention entspringt und dass der Zufluss der zivilen Bevölkerung mit der für die Verwaltung des Herrschaftsapparates erforderlichen Umsiedlung von Menschen abgeschlossen ist. Wenn das stimmt, ist der Urbanisierungsprozess als soziales und wirtschaftliches Phänomen im intentionalen Kern erstickt. Es gibt also keine städtische Verdichtung, keine Akkumulation des Unterschiedlichen. In Naypyitaw leben jene, die nicht anders können oder dazu verpflichtet sind. Sie leben in isolierten Wohnblöcken. Auf dem Unionsterritorium befinden sich funktionale, weit auseinanderliegende Zonen, ohne öffentliche Transportmittel. Naypyitaw ist kein Nährboden für ein integriertes soziales Gebilde mit einer urbanen, in Nachbarschaften lebenden und tätigen Bevölkerung.

«Und so bleibt Yangon das Sinnbild der Demütigung durch eine fremde Macht, die das grosse Bama-Reich in die Knie zwang.»Heinz Schütte

Was auch Einheimische verschreckt.
Deshalb bleiben die Familien der Staatsbediensteten an ihren angestammten Orten. Jeden Freitagnachmittag sammeln sich Menschen am Busbahnhof, um schnellstens zu ihren Familien nach Yangon oder Mandalay zu pilgern. Dort gibt es alles, was man von einer asiatischen Stadt erwartet, wie Nachbarschaftsbeziehungen, Teashops und städtische Vielfalt. Sie kommen Freitag gegen Mitternacht an, sitzen mit Familien und Freunden zusammen und gehen in die Tempel oder Kirchen – und fürchten den Bus, der sie Sonntagabend zurückbringt. Die 320 Kilometer lange Autobahn von Yangon nach Naypyitaw ist zudem wenig imposant – oder gerade doch durch ihre Leere und die Ahnung einer geordneten, sauberen Welt. Man verlässt das grossstädtische Gewusel Yangons, fährt stundenlang durch eine platt gewalzte Landschaft und findet sich endlich in der Gegenwelt von Naypyitaw wieder. Es gibt auch eine alte Eisenbahnlinie von Yangon nach Mandalay über Naypyitaw. In den ersten Jahren strich man den Nachtzug, um den Abzug der Staatsbediensteten zu stoppen, woraufhin sie – bis heute – die privaten Busse nutzten.

Besänftigt die bauliche Ästhetik?
Naypyitaw zeichnet sich nicht durch eindrucksvolle Architektur aus, sofern man vom Parlamentskomplex absieht, und es gibt kein einziges Hochhaus. Vorherrschend ist ein kastenartiger, überdimensionierter Pavillonstil sowohl bei den grossen Hotels als auch den Ministerien. Das gilt ebenfalls für das Militärmuseum. Es besteht nicht aus einem einzelnen Gebäude, sondern jede Waffengattung hat ihren eigenen Bereich mit tempelhaft abgehobenen, megalomanischen Bauten – hier hat sich die Militärjunta, welche die Anlage von Naypyitaw befahl, das in der leeren Landschaft weithin sichtbare Autoporträt geschaffen. Es ist ein Paradebeispiel imperial-autoritärer Architektur und Raumgestaltung mit endlos sich hinziehenden, tiefgekühlten Marmorhallen. Trotz der ethnisch-religiösen Vielfalt Myanmars gibt es in Naypyitaw nur buddhistische Sakralbauten, insbesondere die in weiter Landschaft sich erhebende, der heiligen Shwedagon Yangons nachempfundene, allerdings um 30 Zentimeter kürzere Uppatasanti-Pagode. Die Shwedagon-Pagode ist ständig von Gläubigern überfüllt, ihr Pendant ist meistens leer.

Wie wird ein derartiger Ort Hauptstadt eines Landes?
1997 wurde Myanmar Mitglied der Südostasiatischen Staatengemeinschaft (Asean). Die Mitglieder rotieren in den Mitgliedsländern, und so musste sich Myanmar plötzlich öffentlich präsentieren. Man fürchtete wohl, Aussenstehende könnten die ärmlichen Zustände Yangons sehen. Folglich musste ein Ort, eine Utopie geschaffen werden, um die Realität des Landes zu verdecken: Naypyitaw. Es entstand unter absoluter Geheimhaltung und mit Kosten, die für dieses arme Land ungeheuerlich sind. Finanziert durch den Verkauf von Offshore-Öl und Gas an Thailand und China; Nordkorea wurde mit Reis bezahlt, und sogenannte Cronies, mächtige Privatfirmen der mit dem Militär verbandelten Spiessgesellen, wurden mit Konzessionen vergütet. Keiner wusste, dass da eine Hauptstadt entstand, bis man Ende 2005 die Bediensteten der Regierung umsiedelte.

Was ist für myanmarische Hauptstädte typisch?
Eine neue Hauptstadt signalisiert den Versuch eines Regimes, die Macht gegen einen potenziellen Feind zu konsolidieren. Die Hauptstadt ist der magische Mittelpunkt des Reiches, sie liegt traditionell, aber nicht immer, im Innern des Herrschaftsgebiets, dort, wo der charismatische Herrscher residiert. Entsprechend dem Mandalasystem strahlt die Macht des Herrschers in konzentrischen Kreisen aus. Yangon war vor dem Kolonialismus nie als Hauptstadt konzipiert. 1755 schlug König Alaungpaya erneut die (früh indianisierten) Mon zurück, einigte das Reich und baute Yangon als Knotenpunkt für den Handel mit dem Westen und Südostasien aus. Nach dem Zweiten Britisch-Birmanischen Krieg legten die Briten das schachbrettartige Yangon mit seinen dominanten viktorianischen Prachtbauten an. Und so bleibt Yangon das Sinnbild der Demütigung durch eine fremde Macht, die das grosse Bama-Reich in die Knie zwang. Die letzte königliche Hauptstadt war Mandalay, sie wurde 1852 als «exemplarisches Zentrum» gegründet und war gedacht als Verteidigungsposten gegen einen britischen Vormarsch auf das Restreich im Ayerwadytal. Die eigentliche Stadt ausserhalb des Palastbezirks wurde ebenfalls schachbrettartig angelegt.

Das Happy End blieb aus.
Zu jener Zeit hatten die Briten den Süden mit Yangon als Zentrum annektiert; die Grenze verlief im Sittang-Tal südlich von Pyinmana, also auf dem Gebiet des heutigen Naypyitaw. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Nationen längst nicht mehr auf vergleichbarem technologischem Niveau. Der Osten, aus dem ehedem das Licht kam, hatte seinen Glanz verloren, war auf dem Wege in die «Unterentwicklung» und wurde mehr und mehr zum Objekt der Ausbeutung durch Europa. Im ersten Krieg tauchte 1824 das erste Dampfschiff als Symbol der industriellen Moderne im Hafen von Yangon auf. Im Zeitalter des industriellen Take-off verfügte Grossbritannien über die grösste abhängige Bauernschaft der Welt, die Rohstoffe und Nahrungsmittel von Irland über Afrika bis Südostasien produzierte. Die Birmanen hatten von portugiesischen Händlern Waffen aus dem 18. Jahrhundert erworben. Das prachtvolle Mandalay sollte sie vor den Briten schützen und war nicht am Fluss, sondern einige Meilen landeinwärts angelegt worden; sie konnten bis zum tragischen Ende 1885 nicht glauben, dass die Briten einfach einmarschierten und den König ins indische Exil verfrachteten.

Die Folgezeit blieb ähnlich rasant.
Die Briten hatten nach 1852 Yangon zu einem sich am Fluss entlangziehenden Hafen- und Handelszentrum ausgebaut, eine vom absoluten Staat rational befohlene Kolonialstadt, die der Profitmaximierung diente. Die einheimische Bevölkerung wurde weitgehend verdrängt. Stattdessen wurden Millionen von indischen Arbeitskräften eingeführt. Funktionale Gruppen lebten nebeneinander, es konnte sich kein bürgerliches Bewusstsein bilden – J. S. Furnivall hat das als «Plural Society» beschrieben.

Anschliessend gab es erste Anzeichen von Emanzipation.
Erster Widerstand bildete sich 1906, als B. A.-Studenten des Rangoon College die Young Men’s Buddhist Association gründeten. In den Städten bildeten sich Social Improvement Groups, Debattierclubs und nationalistische Zeitungen, und in den 1920er-Jahren traten politisierte Mönche auf. Das buddhistische Streben nach Erlösung von universellem Leid wurde umgedeutet in ein Streben nach Befreiung aus politischem und wirtschaftlichem Übel. 1920 kam es zum Streik von Studenten der zuvor von den Briten gegründeten Universität. Ihre Anführer nannten sich Thakin (Bedeutung: Herr), um zu demonstrieren, dass sie die Herren des Landes seien. Sie hatten Nietzsche gelesen und liessen sich vom Begriff des Übermenschen leiten; die Frauen nannten sich Thakinma. 1930 brachen mörderische Unruhen zwischen indischen Schauerleuten und birmanischen Arbeitswilligen im Hafen aus. Das ländliche Birma erhob sich in der Saya-San-Rebellion gegen das Kolonialregime.

Am 23. Dezember 1941 bombardierten die Japaner Yangon, Massen von Indern verliessen in Panik und Angst die Stadt; auf ihrem Leidensmarsch nach Indien kamen an die 80 000 Menschen auf dem Weg durch den Dschungel ums Leben. Eine birmanische Unabhängigkeitsarmee unter dem charismatischen Thakin Aung San zog mit den Japanern in Yangon ein; die Japaner gewährten dem Land 1943 die «Unabhängigkeit» im Rahmen der Greater East-Asian Co-Prosperity Sphere – eine Chimäre; die Japaner brachten dem Land nicht die Freiheit, sondern sie wollten dessen Rohstoffe.

Doch das Blatt wendete sich.
Im März 1945 führte General Aung San, der sich den Briten unter Mountbatten im Kampf gegen die Achsenmächte angeschlossen hatte, gegen das Versprechen der Unabhängigkeit den Aufstand gegen die Japaner an; Rangun wurde im Mai von den Briten eingenommen. Die Briten drängten auf eine Konfliktlösung mit den sogenannten Minderheiten, und Aung San verhandelte über eine föderale Lösung.

Dennoch folgte ein weiterer Akt der Tragödie.
Aung San handelte im kalten Winter 1947 mit der neuen Labour-Regierung in London die Unabhängigkeit aus, bei Wahlen im April 1947 erhielt seine Anti-Fascist People’s Freedom League die Mehrheit. Doch im Juli 1947 wurde er zusammen mit den Mitgliedern seiner Übergangsregierung im Sekretariat in Yangon von den Häschern eines Rivalen ermordet. Der junge Held und Messias wurde 32 Jahre alt. Sein Thakin-Kollege U Nu, ein frommer Buddhist, trat an seine Stelle und bildete eine AFPFL-Volksfrontregierung unter Ausschluss der Kommunisten. Birma, das heutige Myanmar, wurde im Januar 1948 mit Yangon als Hauptstadt unabhängig. Die radikaleren Kräfte hingegen waren nicht tot …

… stattdessen bildete sich die Keimzelle heutiger militärischer Überlegenheit.
Die von der Regierung ausgeschlossenen Kommunisten begannen im März den bis heute anhaltenden Bürgerkrieg, dem sich im Januar 1949 die Karen sowie andere anschlossen, und ein Jahr später drangen sie bis an den Stadtrand von Yangon vor. Die Armee unter dem ehemaligen Thakin, General Ne Win, rettete die Regierung und wurde in der Folge zentraler Machtfaktor. 1962 putschte das Militär endgültig, dekretierte den Burmese Way to Socialism. Das Land wurde abgeschottet, intellektueller und wirtschaftlicher Austausch waren stark beschnitten, wodurch es in eine erzwungene Provinzialität zurückfiel. 1987 erhielt Birma den UN-Status eines Least Developed Country. Die Armee war stets ein politischer Akteur, unterstand niemals ziviler Kontrolle und versteht sich nicht als Staat im Staate, sondern als der Staat. Sie griff immer dann ein, wenn sie meinte, dass die zivilen Politiker die (nie bestehende) Einheit des Staates in Gefahr brachten.

Das Aufbegehren der Bevölkerung begann.
Es gab Aufstände gegen die Militärregierung, vor allem wegen der miserablen Versorgungslage. Im August 1988 kam es zu einem landesweiten Aufstand des geplagten Volkes gegen die Diktatur, der brutal niedergeschlagen wurde. Allein bei dem sogenannten White Bridge Incident in Yangon wurden an die 300 Studentinnen und Studenten von Polizei und Armee getötet, Tausende wurden für viele Jahre ins Gefängnis geworfen, flüchteten ins Ausland oder schlossen sich den Aufständen an den nord- und südöstlichen Grenzen an. Am 26. August sprach die nach Birma zurückgekehrte Aung San Suu Kyi vor einem riesigen Poster ihres Vaters an der Shwedagon-Pagode in Yangon vor 500 000 Menschen. Es zeigte die verblüffende Ähnlichkeit – die Wiedergekehrte, die Erwählte. Präsident Ne Win trat zurück, und der State Law and Order Restoration Council (Slorc) übernahm die Macht mit dem Versprechen allgemeiner Wahlen. Die National League for Democracy (NLD) wurde gegründet, und Aung San Suu Kyi wurde im Juli 1989 erstmals unter Hausarrest gestellt. Der «8888-Aufstand» hat die Herrschenden das Fürchten gelehrt, denn die Demonstrationen legten selbst die Regierungsgeschäfte lahm. Fotos zeigen begeisterte Demonstrierende in den Gassen und Strassen von Yangon, unter denen sich Soldaten in Uniform befinden, die Blumensträusse schwingen und Demokratie einfordern. Damals lebten Militärangehörige mit den Familien in städtischen Nachbarschaftsgemeinschaften, da gab es Solidarität und ziviles Bewusstsein – der grösste anzunehmende Unfall für autoritär Herrschende. Jede Ecke war eine potenzielle Barrikade, und kleine Gassen eigneten sich als Versteck. Auf grossen Boulevards – das Wort leitet sich von Bollwerk ab – ist das nicht möglich. Deshalb sind die Boulevards in Naypyitaw wieder Bollwerke, offen in der Landschaft liegend, aber dadurch einsehbar, kontrollierbar. In diese Landschaft ist die Gewalt eingeschrieben, eine reine, aus autoritärem Willen gebildete Staatslandschaft; der Militärbereich ist für die Öffentlichkeit unzugänglich, die Soldaten leben kaserniert unter ihresgleichen. Funktionale Blöcke wie Einkaufszentren oder Ministerien sind jeweils 15 oder 20 Kilometer voneinander entfernt; die einzelnen Elemente des Hauptstadtterritoriums sind von «einem geradezu furchterregend tiefen Raum umgeben», wie es Christoph Ransmayr einst formulierte. Es gibt keine Verdichtung und deshalb keine Gassen, in denen man flanieren und sich verstecken oder schnell verschwinden könnte. Der Aufstand von 1988 ist also der eigentliche Grund für die Errichtung von Naypyitaw; seitdem reiften die Überlegungen für ein neues Hauptquartier, in dem die Macht sich durch Inbesitznahme eines riesigen Territoriums absolut entfalten und vor dem Zorn der gebeutelten Bevölkerung sicher fühlen konnte. Letztlich haben sie sich in das Landesinnere zurückgezogen – in die ursprüngliche Heimstatt der Bama. In Naypyitaw gibt es keine verborgenen Winkel, keine von Bürgern belebten Strassen und Gassen. Geborgenheit ist strukturell ausgeschlossen; Menschen und Landschaft werden gleichermassen auf ihre Funktion im Apparat der Herrschaftssicherung reduziert. Die Planung des neuen Regierungssitzes musste durch totalitäre Topografie sowie durch räumliche und soziale Ausgrenzung verhindern, was sich 1988 in Yangon ereignet hatte.

Wie entwickelten sich daraufhin die Machtverhältnisse?
Die sogenannte Safran-Revolution 2007 wurde ebenfalls gewaltsam niedergeschlagen, doch die Nationalversammlung billigte die von der Militärdiktatur ausgearbeitete neue Verfassung, die einen stufenweisen Übergang zu einer «modernen, entwickelten, geordneten» Demokratie mit einer dauerhaften politischen Schlüsselstellung für das Militär vorsieht. Die NLD boykottierte die Wahlen 2010, die von der Union Solidarity and Development Party unter dem ehemaligen General Thein Sein gewonnen wurden. Er begann den Reformprozess sowie den Dialog mit Aung San Suu Kyi, welche die Nachwahlen von 2011 gewann und ins Parlament einzog. Allgemeine Wahlen bescherten ihrer Partei 2015 die parlamentarische Mehrheit. Aung San Suu Kyi wurde im April 2016 «Staatsrätin», die faktische Regierungschefin. Die Übernahme der Regierung durch Aung San Suu Kyi wurde gleichgesetzt mit der Etablierung von Demokratie. Ein Trugschluss. In Naypyitaw herrschte seither eine Art Diarchie, ein Doppelsystem, in dem sie die Regierung vertritt und das Militär die tatsächliche Macht behält. Denn mit seinen verfassungsmässig zustehenden 25 Prozent der Parlamentssitze und drei Schlüsselministerien kann es jede strukturelle Änderung blockieren und formell die Macht übernehmen, wenn es meint, das Vaterland sei in Gefahr.

Bemerkenswert ist die vermeintliche Akzeptanz der Staatsbediensteten. Trügt dieser Schein?
Ein Bekannter aus dem Justizministerium bewohnt einen der Häuserblocks, die sich farblich nach Zugehörigkeit des Ministeriums unterscheiden. Die Häuser sind nicht älter als 10 Jahre, aber wirken aufgrund des tropischen Klimas bereits marode. Das Mobiliar der etwa 50 Quadratmeter grossen Wohnung besteht im Wesentlichen aus zusammengehauenen Brettern, aber es gibt Wasser, Strom und Internet – Alleinstellungsmerkmale von Naypyitaw. Abends sitzt er, dessen Familie in Yangon lebt, vor dem Computer und schaut Youtube-Videos. Das Internet befähigt zum Blick nach draussen auf das, was märchenhaft möglich, aber nicht erreichbar ist. Menschlicher Kontakt ist auf ein Minimum reduziert, weil die in Naypyitaw Tätigen überwiegend nicht in sozialen Verbänden, sondern als Vereinzelte und in Isolation vorkommen – Naypyitaw bringt die perfekte, auf sich selbst gestellte Monade hervor. Anfangs blieb das Internet für alle gesperrt, bis es die Mächtigen als Herrschaftsinstrument erkannten. Solange Leute zu Hause bleiben, können sie nicht mit anderen aufmüpfig sein.

Anhaltende politische Unruhen im Land gipfelten kürzlich in einer weiteren Machtübernahme durch das Militär.
Seit 1948 hat die Tatmadaw sukzessive ihre Macht zementiert und 1962, 1988, 2007 gegen das Volk eingesetzt, indem sie Tausende und Abertausende tötete, hinter Gitter brachte oder zur Flucht veranlasste. Die im November 2020 abgehaltenen landesweiten Wahlen wurden von der NLD gewonnen, und als sich das Parlament am 1. Februar in Naypyitaw konstituieren sollte, kam es in den frühen Morgenstunden zur Machtübernahme durch eine Militärjunta. Der Putsch hat gezeigt, dass die mächtigste und reichste Institution des Landes zu keinem Zeitpunkt bereit war, die ultimative Macht abzugeben, sondern, wenn sie ihr durch die Einrichtung einer Diarchie nicht garantiert blieb, sich unter Einsatz mörderischer Rücksichtslosigkeit gegen das Volk zu behaupten.

«In diese Landschaft ist die Gewalt eingeschrieben, eine reine, aus autoritärem Willen gebildete Staatslandschaft.»Heinz Schütte

Geben Sie uns eine Einschätzung zu kommenden Ereignissen.
Es sieht so aus, als ob sich die (Bürger-)Kriege, die seit 1949 mit den hufeisenförmig um das Bama-buddhistische Kernland lebenden Ethnien geführt werden, nunmehr auf das gesamte Land ausdehnten. Seit dem 1. Februar 2021 haben Militär und Polizei willkürlich mehr als 700 Menschen getötet, Demonstranten wie zufällige Passanten, Tausende sind geflüchtet, die Universitäten werden gleichgeschaltet, kritische Geister gefangen genommen und gefoltert, Streiks blutig niedergeschlagen. Der Juntachef, Senior General Min Aung Hlaing, lässt derweil in Naypyitaw den grössten Marmorbuddha der Welt errichten, um als Beschützer der Religion sein Karma – die Summe der guten Taten, die über die Wiedergeburt entscheiden und schlechtem Tun entgegenwirken – zu vergrössern und auf diese Weise seine Macht zu legitimieren. Denn Herrscher im Bama-buddhistischen Myanmar, Beschützer und Mehrer der Religion, rechtfertigen ihre Macht durch tugendhaftes Handeln und durch akkumuliertes Karma aus früheren Existenzen, «that transforms the self and reality», wie es Ingrid Jordt auf den Punkt bringt. Am 26. März 2021, einen Tag vor dem Armed Forces Day, als auf den aseptischen Rollfeldstrassen Naypyitaws eine spektakuläre Militärparade (u. a. mit hohen Gästen aus China und Russland) stattfand und 140 Menschen in den Städten des Landes umgebracht wurden, gab es in der Uppatasanti-Pagode eine vom Armeechef und dessen Frau geleitete feierliche Zeremonie für hohe buddhistische Würdenträger und führende Generäle, um Zuflucht bei Buddha, seiner Lehre (Dhamma) und der Mönchsgemeinschaft (Sangha) zu nehmen. Danach bewirteten die Gastgeber die Mönche, so die offiziellen Medien, mit Essen in Smaragdschalen auf mit Blumen und frischen Früchten gedeckten Tischen. Der oder die nach weltlicher Macht Strebende ist karmisch erwählt und legitimiert, und dem kann sich ein demokratisch verfasstes Wahlvolk nicht widersetzen. Wenn es zum Konflikt zwischen zwei vermeintlich Erwählten oder Eliten um die höchste Macht kommt, sind die Folgen dramatisch. Myanmar hat keine Tradition des Kompromisses, des demokratischen Verhandelns, des politischen Ausgleichs.

Das Verständnis von Politik, das die Herrschenden – bei Aung San Suu Kyi ist es um westliche Vorstellungen von Demokratie synkretistisch angereichert, ohne dass es den Kern einer ethno-religiösen Hegemonie der Bama tangierte – und weite Teile der Bevölkerung haben, gerät anscheinend ins Wanken. Frühere Generationen waren von der Aussenwelt in einem autoritären Staat isoliert, doch die heute 20- bis 30-Jährigen sind geprägt von einer prinzipiell offenen Welt, die mitzugestalten und in der sich einzurichten sie als ihr Alltags- und Grundrecht betrachten.

Hat der Schock des 1. Februar also den Schleier der Illusionen zerrissen und den Willen zur Herstellung einer republikanisch konstituierten Nation von Gleichberechtigten geschaffen?
In der Kachin-Hauptstadt Myitkyina hat sich die Civil Disobedience Movement (CDM) mit der lokalen Militärmacht verbündet; im Karen-Staat an der thailändisch-myanmarischen Grenze finden aus den Städten geflüchtete CDM-Mitglieder Unterschlupf und scheinen den bewaffneten Widerstand zu planen; Kachin und Karen sind überwiegend Christen. Mehrere mächtige Rebellenarmeen hingegen – etwa die Arakan Army, die von China alimentierte und bei Bedarf als Druckmittel eingesetzte Wa State Army, die Ta’ang National Liberation Army, der Restoration Council of Shan State – haben sich dieser Allianz nicht angeschlossen, doch auf die würde es ankommen, um das Machtmonopol der Generäle zu gefährden, die aus der Festung Naypyitaw heraus ihr blutiges Repressionsgeschäft betreiben.

Es gab folglich (Mitte April) Anzeichen für Ansätze zur Herausbildung einer über den Bama-buddhistischen Chauvinismus hinausgehenden Solidarität mit dem Ziel einer föderalen Zukunft. Das im Untergrund operierende Committee Representing Pyidaungsu Hluttaw (CRPH) von im November gewählten Parlamentariern hat eine Interim National Union Government gebildet und eine Federal Democracy Charter vorgelegt, welche die Verfassung von 2008 ersetzen soll, «to ensure all ethnic nationalities … can participate and collaborate». Das seien starke Symbole, die der Bevölkerung Zuversicht und eine Perspektive eröffnen könnten, wie ein Freund aus Yangon schreibt.

Gibt es also einen Hoffnungsschimmer?
Wenn Sie damit eine absehbare friedliche Lösung meinen – die kann ich nicht sehen, nur mehr Blutvergiessen. Der zitierte Freund spricht von Naypyitaw als der «hermetischen Kapitale einer hermetischen Armee, die in ihrem Wahn das Land zugrunde richtet». Naypyitaw ist ein formidables militärisches Rückzugsgebiet. Das Ende der Tragödie ist nicht absehbar. ●

Anmerkung: Das Interview erschien in seiner Ursprungsfassung in «Phoenix», Ausgabe 4/2019.

Heinz Schütte …

Naypyitaw cover

… geboren 1937, ist Soziologe. Er studierte in Freiburg im Breisgau, in Köln und in Kiel und war als Hochschullehrer tätig. Er forschte unter anderem in Afrika, Papua-Neuguinea und Vietnam sowie in Indonesien und Myanmar. Seit 1980 lebt er als freier Forscher in Paris.

In dem 2018 veröffentlichten Buch «Naypyitaw: An Approach» werden die Erlebnisse von Heinz Schütte mithilfe der ausdrucksstarken Fotografien von Wolfgang Bellwinkel ideal inszeniert. Im darauffolgenden Jahr erschienen mit «Naypyitaw: Eine Annäherung» die Schilderungen von Heinz Schütte auch in der deutschen Fassung.

Die Shwedagon-Pagode
Naypyitaw Park
Yangon hat alles, was eine asiatische Stadt ausmacht. Auch deshalb wohnen die Familien der Staatsbediensteten weiterhin in Yangon, anstatt nach Naypyitaw umzuziehen. Fotos: Getty Images
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Während in Yangon verdichtetes Wohnen mit Nachbarschaftsbeziehungen zum Alltag gehört, bleiben in Naypyitaw viele Gebäude ungenutzt. Fotos: Getty Images
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