Neues Wohnen denken
In der Sprachwissenschaft wird die Macht von sprachlichen Schlüsselbegriffen als Framing bezeichnet. Ein Frame wie «Die Familie» setzt unserem Gedanken einen vertrauten Bezugsrahmen, der unbewusst unser Denken und Handeln beeinflusst.

Die Schweizer Immobilienwirtschaft baut Ein- und Mehrfamilienhäuser. Aber warum eigentlich «Familienhäuser», wenn doch in fast 70 Prozent unserer Haushalte nur gerade eine oder zwei Personen leben? Verhindern am Ende die im Sprachgebrauch zementierten Denkmuster, dass dringend benötigte Innovationen enstehen?Spielen wir kreativ mit dem Gedanken: Warum werden für eine Gesellschaft von Singles und Paaren Einfamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser gebaut? Orientieren wir uns nicht unbewusst zu sehr an der Vorstellung einer Familie, wenn wir über die Zukunft des Wohnens nachdenken, statt uns auf die wirklichen Bedürfnisse künftiger Mieter und Käufer zu konzentrieren?
In der Sprachwissenschaft wird die Macht von sprachlichen Schlüsselbegriffen als Framing bezeichnet. Ein Frame wie «Die Familie» setzt unserem Gedanken einen vertrauten Bezugsrahmen, der unbewusst unser Denken und Handeln beeinflusst. Dieser Rahmen hält uns nicht nur davon ab, neue Realitäten zu erkennen, sondern macht uns auch blind für die konstruktive Gestaltung der Zukunft. Die Soziologin und Linguistin Elisabeth Wehling etwa kommt zum Schluss, es sei «höchste Zeit, […] unsere Naivität gegenüber der Bedeutung von Sprache in der Politik abzulegen»¹. Gleiches dürfte auch für die Immobilienwirtschaft gelten.
In der Tat wissen jeder Produktentwickler, jeder Erfinder und jeder Marktpsychologe, wie schwierig es ist, Menschen für Innovationen zu gewinnen, wenn diese den Rahmen des Bekannten und Gewohnten markant überschreiten. Noch vor wenigen Jahren hätten wohl viele von uns behauptet, wir würden niemals ein Smartphone brauchen, weil wir ja «nur telefonieren» wollen. Und dem Kurznachrichtendienst SMS hatten Anfang der Neunzigerjahre noch nicht mal seine Erfinder selbst eine nennenswerte Zukunft attestiert. Unser Denken baut auf Worten und den damit verbundenen Vorstellungen, Erfahrungen und Konnotationen und bleibt tendenziell auch darin befangen. Das zeigt sich auch, wenn wir mit Investoren, Erstellern, Planern oder Nutzern von Wohnraum über das Wohnen der Zukunft sprechen.
Vom Familien-Frame zur Lebenszone
Ein mächtiger Frame im Wohnungsaufbau ist der Begriff der Familie, welcher unsere Vorstellungen über das richtige Wohnen massgebend prägt. Aktuell beobachten wir:
- Zwei Drittel der Wohnungen in der Schweiz werden von Singles und Paaren bewohnt; in der Tendenz nimmt dieser Anteil weiter zu.
- 80 Prozent ihrer Zeit verbringen diese Bewohner innerhalb ihrer Wohnung in einem kleinen Bereich des ihnen zur Verfügung stehenden Wohnraums. Einzelne Zimmer werden zu Abstellräumen oder fristen ihr Dasein als kaum genutzte Arbeits- oder Gästezimmer.
- Der Familien-Frame und die damit assoziierten mentalen Bilder von Wohnzimmern, Esszimmern, Elternschlafzimmer und Kinderzimmern setzen den Rahmen, um in Zimmerkategorien zu denken. Das eigentlich nicht benutzte Kinderzimmer ordnen wir daher gedanklich einer neuen Aufgabe zu, ohne uns zu fragen, ob der Raum nicht sinnvoller genutzt werden könnte. Disruptiv betrachtet stellen sich Fragen wie:
- Wie sähen der Grundriss einer Single- oder Paarwohnung aus, der weniger Zimmer und stattdessen grosse funktionale Abstellräume hätte?
- Wie wären Häuser und Wohnungen beschaffen, wenn wir Wohnen nicht mehr in Räumen, sondern in Lebenszonen dächten?
- Was definiert Lebenszonen, wie wären diese gestaltet, wie möbliert?
- Innovation heisst, sich der eigenen mentalen Barrieren bewusst zu werden und sich neue Fragen zu stellen.
Wozu brauchen wir eine Küche?
Die Küche ist weiteres Beispiel, wie der Familien-Frame unsere Vorstellungen beeinflusst. Tief in unserem kollektiven Bewusstsein ist das Bild vom Essen am Familientisch verankert. Eine Küche ist so zu konzipieren, dass wir für eine Familie kochen könnten. Im Gegensatz zum mentalen Frame der Familienküche stehen die gesellschaftlichen Entwicklungen rund um Essen und Kochen. Hier zeigen die Daten, dass sich die Bevölkerung immer häufiger auswärts oder unterwegs verpflegt. Neu besteht bei der jüngeren Generation ein starker Trend, vorbereitete, vorgekochte oder fertige Mahlzeiten mit nach Hause zu nehmen. Kochen heisst aufzuwärmen oder bestenfalls eine Portion Spaghetti ins heisse Wasser zu werfen.
- Was bedeutet das veränderte Verhalten für unsere Küche von morgen und ihre Ausstattung?
- Was wäre, wenn wir den Mietern die Wahl zwischen einer funktional erweiterten Kaffeenische und einer «echten» Küche liessen?
- Was wäre, wenn die Bewohner mehr Wert auf ein grosszügiges Bad als auf eine grosse Küche legten?
Vielleicht sollten wir auch über flexibel möblierte Küchen mit individuell wählbaren Küchengeräten nachdenken, oder über die Machbarkeit von wandelbaren, individuellen Nasszellen, die sich ein Stück weit auch funktional mit andern Funktionen zur einer Lebenszone verbinden.
Die Beispiele verdeutlichen, dass bereits eine einfache Gegenüberstellung von Trends und Fakten zu interessanten Fragen führt und den Blick für Innovationen öffnet.
Die Zeit ist reif für die wandelbare Wohnung
Innovation kann aus einer einfachen Gedankenaufgabe entstehen:
- Wie sieht eine Wohnung oder eine Siedlung aus, die sich immer wieder von Neuem dem Leben ihrer Bewohner anpasst?
Rasch wird klar, dass sich die Wohnung der Lebenssituation des Individuums, der Form der jeweils aktuellen Lebensgemeinschaft oder dem Stadium des klassischen «Familienlebens» anpassen muss. Aus der grosszügigen Dreizimmerwohnung, die ein Paar bewohnt, wird mit Kleinkindern eine Vierzimmerwohnung. Wenn die Teenager ihr eigenes Zimmer brauchen, lässt sich das grosse Kinderzimmer in zwei Teenager-Zimmer teilen. Die Familie wohnt nun in einer klassischen Fünfzimmerwohnung. Später, wenn sich die Teens nicht mehr zwischen Freiheit und Nestwärme entscheiden können, wohnen sie vielleicht lieber in der Einzimmerwohnung mit Bad zwei Stockwerke über den Eltern. Und wenn alle ausgezogen sind, geniesst das Paar wieder sein grosses Dreizimmerappartement oder ist zufrieden mit einer kleineren Dreizimmerwohnung. Die nicht mehr gebrauchte Wohnfläche steht anderen oder vielleicht auch als Platz für das Homeoffice zur Verfügung.
Das Gedankenspiel lässt sich auch auf die Gemeinschaftsräume anwenden: Aus dem nicht mehr genutzten Siedlungshort wird ein Jugendtreff, der sich später zu gemeinsam verwalteten Gästezimmern wandelt, oder eines Tages zum Senioren-Café.
Natürlich ist sie nicht ganz neu, diese Idee der flexiblen Wohnung oder der multifunktional verwendbaren gemeinschaftlichen Ressourcen. Und der eine oder andere Planer mag sich erinnern, dass früheren Versuchen in dieser Richtung nicht immer Erfolg beschieden war. Effektiv ist eine gute Idee ja noch keine erfolgreiche Innovation. Vielmehr müssen Technik und Gesellschaft reif sein für die Idee. Viele Indikatoren sprechen jetzt dafür, dass der Markt heute tatsächlich reif ist für die wandelbare Wohnung. Die Menschen leben flexibler, agiler, leichter, und unser Leben ist mehr denn je von stetiger Veränderung geprägt. Längst kaufen wir unsere Wohnungseinrichtung nicht mehr für das ganze Leben. Die Musiksammlung und das Bücherregal tragen wir dank der Digitalisierung in der Hosentasche. Und statt des gemeinsamen Fernsehabends schaut meine Freundin in der Hängematte eine fernöstliche Soap auf ihrem Tablet-PC, während ich am Smartphone die tausend Fotos dieses Monats sortiere. All diese kleinen Veränderungen weisen darauf hin, dass Bewohner ein neues Verhältnis zum Wohnen haben.
Die Diskussion über flexible Wohnungen zeigt, dass kritische Reflexion die Basis für echte, nachhaltige Innovationen ist. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass tolle Ideen allein nicht genügen.
Wenn Innovation gelingen soll, gilt es auch unser angestammtes Verständnis und unsere Begrifflichkeit vom Wohnen und vom Wohnungsmarkt zu hinterfragen. Neues Wohnen wird erst Wirklichkeit, wenn wir auch bereit sind, das eine oder andere Bild in unserem Kopf neu zu prägen.
¹ «Politisches Framing – Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht». Elisabeth Wehling. 2015, Verlag Herbert von Halem
Drei Beiträge zu Immobilien und Innovation
In einer dreiteiligen Serie diskutiert der Autor Werner Schaeppi das Thema Innovation im Kontext von Wohnungsmarkt, Büro- und Gewerbeimmobilien sowie Verkaufsflächen in städtischen und peripheren Lagen. Die Entwicklung der Schweizer Immobilienwirtschaft basiert auf ihrem über Jahrzehnte aufgebauten Wissen über Märkte und Kunden. Erfahrungen und Tradition waren und sind Garant für ihren Erfolg. Die Digitalisierung und die Dynamik des technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels fordern nun ein neues Denken. Angesichts der globalen Kraft der Veränderungen muss die Schweizer Immobilienwirtschaft innovativer werden. Innovation ist eine Investition in die Zukunft, die es − wie jede andere Ressource − zu managen gilt.
