Tageslicht pur

Der Umgang mit Tageslicht gehört zu den Urprozessen des Bauens. Am Anfang waren Höhlen und Unterholz. Diese «gegebenen Räume» hatten entweder zu wenig oder zu viel Licht.

Tageslicht gehört
Je nachdem, wie Licht in einen Raum fällt, verändert es die Wahrnehmung von diesem Raum.
Sinnvoller Umgang mit Tageslicht
Von Christian Vogt

Der Umgang mit Tageslicht gehört zu den Urprozessen des Bauens. Am Anfang waren Höhlen und Unterholz. Diese «gegebenen Räume» hatten entweder zu wenig oder zu viel Licht. Während es bei der Höhle eher um Lüftungsfragen ging, stand beim Unterholz der Wetterschutz im Vordergrund. Erst viel später beim aktiven Bau einer Behausung wurden die Fragen «Wo befindet sich der sinnvollste Ort?» und «Was ist die sinnvollste Form?» gestellt.Bereits eine kleine Öffnung verbindet nicht nur innen und aussen, sondern erfüllt den Raum mit Licht und verändert  unsere Wahrnehmung von ihm. In vielen Fällen ermöglicht diese kleine Öffnung erst ein andere Wahrnehmung. So ändert sich auch die Vorstellung von diesem Raum. Dabei reichen die möglichen Assoziationen, die hervorgerufen werden können, von gefangen bis beschützend, von leicht bis unheimlich.

Wenig Öffnung – grosse Wirkung

Eine kleine Öffnung kann eine grosse Raumwirkung haben. Dies bedeutet jedoch auch, dass der Ort, an dem das Tageslicht eintritt, eine sehr wichtige Rolle spielt. Bei gleicher Architektur ergibt eine Öffnung in der Mitte der Decke oder direkt anschliessend an der Wand zwei völlig verschieden wahrgenommene Räume.

Licht braucht einen Träger. Zum Beispiel eine Oberfläche, die ihm hilft, sichtbar zu werden. Da Wände auf die Wahrnehmung eines Raumes den grössten Einfluss haben, sind sie neben den Dächern ideal, einen Raum hell erscheinen zu lassen. Die Öffnung muss nur auf sie augerichtet sein. Dabei ist nicht nur die Helligkeit der Oberflächen, sondern auch ihr Glanz für die Weiterleitung von Tageslicht entscheidend. Bei der heutigen Verdichtung von Bausubstanz sollte das Ziel einer sinnvollen Tageslichtnutzung stets der Gebäudekern sein. Um Licht in diese Regionen zu bringen, ist Oberflächenglanz von grossem Vorteil. Dafür reichen bereits glänzende Klarlacke, zum Beispiel auf Sichtbeton, aus. Die Wirkung des weitergeleiteten Lichts ist dabei um einiges grösser als bei weissen, eher matten Oberflächen.

Licht muss sichbar gemacht werden

Doch auch der «Glanz« hat zwei Seiten. Sie werden vor allem bei Fassaden und deren Wirkungen auf die Umgebung sichtbar. So kann die Spiegelung auf einer neu erstellten Fassade zwar tristen Hinterhöfen neues Leben geben, aber auch für starke Blendungen in Nachbargebäuden sorgen. Was in nicht wenigen Fällen zu massiven Streitigkeiten und Forderungen führen kann.

Die Lösung: Dem Glanz – ob bei Fassaden oder Innenraumflächen – bereits in der ersten Planungsphase die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wird bewusst projektiert, können einfache Gebäude mit einer faszinierenden Wirkung entstehen. Und das nur mit Wasser, Lack oder Politur.

Ein wesentlicher Vorteil beim Arbeiten mit eher feinen, grossflächigen Spiegelungen liegt auf der Nutzung des gesamten Tageslichts auch bei bewölktem oder bedecktem Himmel. Denn allzu oft wird bei Tageslichtnutzung lediglich an das Sonnenlicht, das direkt von der Sonne ausgestrahlt wird, gedacht. Dabei ist in Mitteleuropa etwa 70 Prozent des gesamten Jahres der Himmel mehr oder minder bedeckt und die Sonne kaum sicht- und damit auch nicht direkt nutzbar.

Wie erwähnt, hat die Frage nach der sinnvollen Tageslichtöffnung viele Generationen von Baumeistern und Architekten beschäftigt. Doch mit dem Aufkommen des Kunstlichts, dem ökonomischen «Selbermachen» des Lichts, wurde die Tageslichtnutzung in der Architektur zweitrangig. Denn schliesslich konnte man das natürliche Licht in Nachtstunden nicht mehr nutzen. Die Arbeitskraft des Menschen hingegen schon. Dies ging so weit, dass in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts sogar die Überzeugung aufkam, dass Schul- und Industriebauten ohne jegliche Tageslichtöffnung die beste Art des Bauens sei. Dieser von Energieeffizienz getriebene Idealismus hat zwar nicht lange angehalten, doch der Trend selbst hat dazu geführt, dass viel vom alten Wissen der sinnvollen Tageslichtnutzung verloren ging.

Viel Wissen ist verloren gegangen

Nur bereits die einfache Frage, ob eine ideal nach Norden ausgerichtete Fassade in Mitteleuropa über das Jahr hinweg je besonnt wird, ist heute für einen Grossteil der Architekten schwierig zu beantworten. Nicht die Antwort an sich ist schwierig. Denn in der Regel bekommt man sehr rasch zu hören, dass keine Sonne auf Nordfassaden gelange.

Dass jedoch tatsächlich das ganze Sommerhalbjahr die Sonne auf die Nordfassade scheinen kann, und das unter Umständen sieben Stunden am Tag, ruft oft grosses Staunen hervor. Dabei war es noch vor hundert Jahren selbstverständlich, die Fenster von Sheddächern im Frühling mit Kalkfarbe zu behandeln, damit im Sommer nicht zu viel direkte Sonnenwärme in die Räume gelangen konnte. Basiswissen, das wir verlernt haben.

Betrachten wir die Kellerräume von Einfamilienhäusern, so war es für die Planer bis in die 50er-Jahre selbstverständlich, dass die Brüstungen unter den oft kleinen Kellerfenstern zum Raum hin abgeschrägt waren. Die Mehrmenge an Tageslicht beträgt etwa 300 Prozent gegenüber dem heutigen Standard einer rechtwinkligen Brüstung. Der Aufwand? Ein Keil beim Betonieren.

Die Anwendung von altem Wissen und dessen Neuinterpretation und Verifizierung ist in Bezug auf unsere Tageslichtbegleitung einer der Hauptfaktoren, die von Architekten eingebracht werden können.

Trotz unseres technologischen Könnens ist die grenzenlose Vielfalt des Tageslichtes in Farbe, Lebendigkeit und Zusammensetzung heute lediglich mit enormem Aufwand künstlich zu erzeugen. Dabei sind Trends in der künstlichen Beleuchtung, wie zum Beispiel HCL (Human Centric Light) oder chronobiologische Beleuchtung, erst Ansätze und noch weit vom Tageslichtersatz entfernt.

Die Möglichkeit jedoch, die Nacht im wahrsten Sinne des Wortes zum Tag zu machen, gewinnt in unserer 24-Stunden-Gesellschaft stetig an Bedeutung. Die Sinnhaftigkeit dieser Entwicklung muss offenbleiben und ist schwer zu begründen.

Der künstliche Ersatz wird jedoch nur gelingen, wenn wir uns wieder an die ursprünglichen Zusammenhänge von Tageslicht und Raum und damit an seine ursprünglichste Schönheit erinnern können. Und sie bei Tage auch einfach nutzen. ●

Christian Vogt
Christian Vogt ist Gestalter, Ingenieur und freischaffender Künstler. Er ist ausserdem Inhaber und Leiter von «lichtgestaltende Ingenieure vogtpartner». Das Büro gehört zu den führenden Lichtgestaltern Europas und ist neben der Beleuchtungsplanung spezialisiert auf Tageslichtplanung und lichttechnische Expertisen. Christian Vogt lehrt an verschiedenen Hochschulen auf den Gebieten visuelle Ergonomie, Lichttechnik und architektonische Lichtgestaltung. Er ist Mitglied verschiedener Fachgremien im In- und Ausland sowie Mitautor mehrerer Fachbücher.
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