Von der Glashütte zum lebendigen Quartier

Keineswegs alltäglich ist, dass sich eine Wohnbaugenossenschaft, eine gemeinnützige Aktiengesellschaft und ein Immobilienentwickler auf eine gemeinsame Vision verständigen und ein ehemaliges Industrieareal in ein lebendiges Quartier umwandeln. Genau das ist in Bülach passiert: Entstanden ist ein neues städtisches Quartier mit 580 Wohnungen und 20 000 Quadratmetern Gewerbe- und Büroflächen. Der Bezug in Etappen beginnt bereits.

Glashütte
Das ehemalige Industrieareal von rund 42 000 Quadratmetern Grösse verwandelt sich in ein lebendiges Quartier.

Von Matthias Gallati (Text) und Holger Jacob (Bilder)

Die Stilllegung der Glashütte im Jahr 2002 war für die Gemeinde der Zürcher Unterlands, Bülach, ein einschneidendes Ereignis, zumal auch die benachbarte Bülachguss in dieser Zeit ihre Tore schloss. 111 Jahre lang wurde in der Glasi Glas geblasen. Das prägt eine Gemeinde und ihre Bewohnenden. Danach lag das Areal einige Jahre brach, und die Gemeinde überlegte sich, was zu tun ist. Ihre Verantwortung wahrend, hat sie untersuchen lassen, wie sich das Glasi-Areal und umliegende ehemalige Industriegelände entwickeln lassen könnten. In der Folge hat sie die planungsrechtlichen Voraussetzungen für die Entwicklung der Areale in einem Gestaltungsplan festgehalten.

Glashütte
Duplex Architekten schufen ein Netz aus strahlenförmigen Strassen, an deren Kreuzungspunkten vier Plätze mit jeweils eigenem Charakter entstanden, der massgeblich von der Erdgeschossnutzung bestimmt wird.

Gemeinnützige Wohnbauträger kaufen das Areal
Dank der Vermittlung des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz haben die beiden gemeinnützigen Wohnbauträger Baugenossenschaft Glattal und Logis Suisse AG das Glasi-Areal im Jahr 2012 kaufen können. Für die Entwicklung und die Ausführung holten sie den Projektentwickler und Totalunternehmer Steiner AG ins Boot. Gemeinsam lancierten sie einen Studienauftrag und luden hiesige sowie international bekannte Architekturbüros ein, ihre Vorstellungen von einem Stadtquartier zu formulieren. Die Aufgabe war anspruchsvoll: Wie sollte ein ehemaliges Industrieareal von rund 42 000 Quadratmetern Grösse in ein lebendiges Quartier umgewandelt werden? Gefordert war explizit eine hohe Dichte, eine gute Durchmischung und Platz für Gewerbe, Büros und Gastrobetriebe.

Entwurfsprozess erfunden
Duplex Architekten aus Zürich haben mit ihrem Entwurf die Wettbewerbsjury überzeugt. Gewählt haben sie einen unüblichen Weg: Bei der Planung der Gebäude sind sie nicht von einzelnen Gebäuden ausgegangen, sondern von Zwischenräumen. Diese definierten sie zuerst: Sie schufen ein Netz aus strahlenförmigen Strassen, an deren Kreuzungspunkten vier Plätze mit jeweils eigenem Charakter entstanden, der massgeblich von der Erdgeschossnutzung bestimmt wird. Die 21 Gebäude des neuen Quartiers haben sie damit wie bei einem Linolschnitt aus der Gebäudemasse herausgeschnitten. In einem nächsten Schritt haben sie an den Plätzen, Rändern und Strassen die Wohnungen entworfen. So ist eine starke Kollektion von Gebäuden entstanden, die sich durch charakteristische Eigenheiten auszeichnen. Die meisten Häuser sind mit Sockelgeschossen für öffentliche Nutzungen, vier Regelgeschossen und zweigeschossigen Mansarddächern versehen. Markanter Blickpunkt des Quartiers ist ein 60 Meter hohes Hochhaus mit 19 Stockwerken, entwickelt von Wild, Bär, Heule Architekten. Ein grosses Gewerbehaus ist noch in Bau, ein weiteres ist geplant. Die Besonderheit des architektonischen Entwurfs von Duplex liegt darin, dass sich die einzelnen Gebäude dem Leitmotiv der Gesamtidee unterordnen.

Glashütte
Die 362 gemeinnützigen Mietwohnungen waren schnell vermietet, die insgesamt 110 Eigentumswohnungen im Hochhaus und in einem weiteren Haus waren bald verkauft.

Nun kommt Leben ins Quartier
Ob sich die städtebauliche Vision der Entwicklungspartner, eine «eigenständige, überdurchschnittliche Quartierqualität mit überzeugenden Lebensqualitäten zum Wohnen und Arbeiten zu schaffen», erfüllt, wird sich zeigen. Die 362 gemeinnützigen Mietwohnungen waren jedenfalls wie erwartet schnell vermietet, die insgesamt 110 Eigentumswohnungen im Hochhaus und in einem weiteren Haus bald verkauft. Dazu kommen weitere Mietwohnungen, ein Wohn- und Pflegezentrum mit 62 Wohnungen für Seniorinnen und Senioren, 40 Pflegeplätzen und einem öffentlichen Restaurant sowie ein Ärztehaus mit diversen Praxen.

Hinzu kommen weitere Mietwohnungen, ein Wohn- und Pflegezentrum mit 62 Wohnungen für Seniorinnen und Senioren.

Trotz Corona war das Interesse an Gewerberäumen gross: Die Stiftung Wisli, die Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung Arbeitsplätze anbietet, wird ein wichtiger Mieter. Die Stiftung zieht all ihre Angebote – darunter ebenfalls ein Restaurant sowie ein grosser Bikestore – Ende nächsten Jahres auf dem Glasi-Areal zusammen. Weiter hat sich das kürzlich gegründete Digital Health Center Bülach entschlossen, ins Glasi-Quartier zu ziehen. Denner eröffnet eine Filiale, und vom Rohkostladen über das Einrichtungsgeschäft bis zu weiteren Gastrobetrieben sind die meisten Erdgeschosse öffentlichen Nutzungen vorbehalten. Dazu gehören drei Gemeinschaftsräume, denn die Trägerschaften des Glasi-Quartiers legen grossen Wert auf ein gutes nachbarschaftliches Miteinander, das sie mit Angeboten wie diesen fördern wollen. Wer ein Fest feiern will oder wer seinen Verein zusammenruft, findet hier Platz. Und wer sich im Quartier nicht auskennt, kann an der Quartierrezeption um Rat fragen.

Geheizt wird mit Holz aus der Umgebung
Das Glasi-Quartier liegt direkt beim Bahnhof und ist damit sehr gut erschlossen. Die Bewohnenden und Arbeitenden gelangen künftig direkt von den Bahnsteigen ins Quartier, denn die Stadt Bülach plant eine Fussgängerpasserelle. Geheizt wird im Glasi-Quartier mit Holz. Eine Holzheizzentrale mit einer Leistung von 2160 KW deckt 100 Prozent des Wärmebedarfs des neuen Quartiers ab. Gespeist wird die Zentrale mit Holzhackschnitzeln aus der nahen Umgebung, von der die Wärme über ein Arealnetz an die einzelnen Häuser verteilt wird. Der Strom wird vom EKZ über einen Mittelspannungsanschluss und drei Trafostationen auf dem Areal bezogen. Die Art des Stroms wählen Bewohnende und Nutzende selbst, sie vereinbaren die Lieferung direkt mit dem Energieversorger.

Glashütte
Geplant wurde das Quartier vollständig nach dem Open-BIM-Standard.

Komplexität verlangt BIM

Ein so grosses Bauvorhaben ist komplex. Die Steiner AG hat sich deshalb dazu entschlossen, es vollständig nach dem Open-BIM-Standard zu planen und zu bauen: Die am Prozess beteiligten Unternehmen konnten eigene, fachspezifische Modelle einsetzen, die mit jeweils eigener Software erstellt wurden. Anschliessend wurden diese übernommen. Die Qualitätsprüfung und die räumliche Koordination fanden an regelmässigen Sitzungen im Glasi-Projektbüro in Bülach oder online mit allen Planenden statt.

Wo früher die berühmten grünen Bülacher Einmachgläser geblasen wurden, dominieren in diesen Tagen die Umzugswagen das Bild. Seit Juli füllt sich das neue Quartier sukzessiv mit Leben.

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