Der Begriff «Tageslicht» beschreibt zunächst einmal alle möglichen direkten und indirekten (Licht-) Wirkungen, die durch oder mit Licht erzeugt werden, welches von der Sonne abgegeben wird.Der Mensch ist ein «lichtaktives» Lebewesen, das sich nahezu über seinen gesamten evolutionsbiologischen Entwicklungsprozess am Tageslicht orientiert und sich unter diesem entwickelt hat. Erst in der (evolutionsbiologisch extrem kurzen) Phase der letzten 100 bis 150 Jahre hat sich das menschliche Verhalten dahingehend verändert, dass sich der Mensch immer häufiger und immer länger in Innenräumen aufhält. Diese Veränderung wird durch Verstädterung, Industrialisierung, Wohnkomfort und so weiter vorangetrieben und ist kaum durch Appelle und Mahnungen aufzuheben oder umzukehren.
Der Umstand, dass wir uns immer länger in immer besser geschützten Innenräumen aufhalten, hat jedoch Auswirkungen auf unseren Stoffwechsel und unser Wohlbefinden. Lichtmangelerscheinungen waren schon einmal – und werden jetzt wohl wieder – eine Art Zivilisationskrankheit. Gerade in diesem Zusammenhang kann durch den richtigen Umgang mit der Grösse Tageslicht mit Architektur vieles positiv beeinflusst werden – wenn man Licht als Grundnahrungsmittel versteht und akzeptiert.
Lichttechnische Kennzahlen
In der neuen SN EN 17037 «Tageslicht in Gebäuden», die Ende April 2019 in der Schweiz veröffentlicht wurde, werden verschiedene lichttechnische Kenngrössen hinsichtlich «Tageslichtversorgung», «Besonnung», «Aussicht» und «Blendung» abgefragt, die eine gute Grundversorgung mit Tageslicht gewährleisten. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn bislang wurde in der Schweiz der Umgang mit Tageslicht nur ungenügend geregelt. Zwar sagt die Norm SIA 112-1 «Nachhaltiges Bauen – Hochbau» das Tageslicht wichtig ist, macht aber keine weiteren Vorschriften. Allein das Arbeitsgesetz (ArG) und die Arbeitsgesetzverordnung (ArGV 3, Art. 15 «Beleuchtung») machen Vorgaben zur Tageslichtversorgung: Tagsüber soll jeder Mitarbeiter eine gewisse Dosis von Licht mit hohem Blauanteil abbekommen – was auch immer das heisst –, und die Lichtintensität soll während der gesamten Arbeitszeit mindestens 600 Lux betragen. Dies kann aber auch unter Zuschaltung von Kunstlicht erfolgen. Darüber hinaus ist in ArGV 4, Art. 17 «Fenster» geregelt, dass die Fläche der Fassaden- und Dachfenster mind. ein Verhältnis von 1: 8 zur Raumfläche oder 12,5 Prozent von ihr aufweisen und mind. die Hälfte davon durchsichtig verglast sind. Aber ist damit eine gute Tageslichtversorgung für den Menschen erreicht?
Bei dem Begriff Tageslicht denken viele Menschen zunächst an Sonne, bzw. direktes Sonnenlicht welches auf Oberflächen im Innenraum fällt. Die Möglichkeit einer direkten Besonnung (zusammen mit einem ausreichenden Schutz vor der Sonne) stellt ein Qualitätskriterium von Innenräumen dar. Mindestens ein Raum, eine Wohnung, aber auch Aufenthaltsräume und Pausenräume im speziellen sollen eine ausreichende Besonnung erhalten. Neu wird in der SN EN 17037 um den 21.03. eine direkte Besonnung von bis zu 4 Stunden empfohlen.
Qualitätskriterium
Die Möglichkeit von direktem Sonnenlicht ist sicher ein wichtiges Qualitätskriterium von Innenräumen. Hierbei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass (in Deutschland) kaum ein Ort existiert, an dem die Sonnenscheindauer 45 Prozent der Tageslichtzeit überschreitet (wenn man das Jahr 2018 mal aussen vor lässt!) – und gerade in den tageslichtarmen Monaten November bis März ist eine ausreichende bis gute Tageslichtversorgung ein wichtiges Qualitätskriterium von Innenräumen.
Ein Innenraum, in dem von November bis März (oder noch länger) immer das Kunstlicht «brennen» muss, um den Innenraum mit ausreichend Licht zu versorgen, hat keine gute Tageslichtversorgung. Sehr gut ist eine Tageslichtversorgung, wenn (statistisch gesehen) das Kunstlicht auch im Winter nur von morgens bis vormittags und von nachmittags bis abends zugeschaltet werden muss. Dann stellt sich neben den positiven Aspekten einer ausreichenden Tageslichtversorgung auch noch eine echte Einsparung beim Kunstlicht ein.
Eine gute Tageslichtversorgung muss nicht zwangsläufig mit extrem hohen Energieeinträgen einhergehen. Hier kann über die Architektur, über Ausrichtung und Verschattung dafür gesorgt werden, dass eine Überhitzung der Innenräume vermieden wird. Es kommt erstaunlicherweise nie zu Beschwerden über zu viel Tageslicht. Das Wohlbefinden der Nutzer eines Raumes ist dann eingeschränkt, wenn der Raum zu warm ist oder wenn die Sonne (oder andere angestrahlte Oberflächen) im Vergleich zum Rest des Innenraumes zu hell ist – dann kommt es zu gefühlter oder tatsächlicher Blendung.
Aussicht aus einem Innenraum
Eine weitere lichttechnische Kennzahl, die auch sehr stark durch die Architektur definiert wird, ist die Aussicht aus einem Innenraum. Die SN EN 17037 definiert die Aussicht über verschiedene Ebenen. Es reicht hier nicht, wenn nur Hintergrund wie Stadt oder Landschaft zu sehen ist. Es wird auch definiert, dass Himmel und Grund zu sehen sein sollen. Eine ausreichende Aussicht besteht nur, wenn für einen bestimmten Punkt (den Arbeitsplatz) ein bestimmtes Verhältnis von Himmel, Landschaft und Boden überschritten wird. In der Schweiz regelt Art. 15 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz («Gesundheitsvorsrorge», ArGV 3) und beinhaltet eine sehr generell gehaltene Vorschrift betreffend genügend Licht am Arbeitsplatz – und es wird auch nicht unterschieden zwischen natürlicher und künstlicher Lichtquelle, was aber einen relevanten Unterschied darstellt (Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit, Atmosphäre).
Zuletzt liefert die SN EN 17037 die Grundlage für eine Bewertung einer «möglichen Blendung» eines Arbeitsplatzes im Raum durch Tageslicht. Hierzu wird das Werkzeug DGP (Daylight Glare Propability) eingeführt. Die DGP beschreibt, ob Nutzer eines bestimmten Arbeitsplatzes durch Tageslicht geblendet werden. Hierzu werden verschiedene Niveaus angeboten: «nicht wahrnehmbar», «nicht störend», «störend» und «inakzeptabel».
Mit den oben beschriebenen lichttechnischen Kennzahlen liegen also Schwellenwerte für unterschiedlichste Phänomene vor, welche die Architektur im Hinblick auf den Umgang mit Tageslicht einhalten sollte. Ob diese zwingend einzuhalten sind, ob Besonnung gewünscht oder toleriert ist, welches Niveau an Tageslichtversorgung beabsichtigt wird oder welches Niveau an Sichtverbindung nach aussen angestrebt wird, obliegt der Abstimmung zwischen Bauherr und Planerschaft. Es sollte jedoch offensichtlich sein, dass gerade der Umgang mit Tageslicht einen Zielkonflikt auf mehreren Ebenen beschreibt.
Es gibt verdichtete städtebauliche Situationen, in denen der ausreichende Zugang zu Tageslicht, Sonne oder einer Sichtverbindung nach aussen nicht oder nur eingeschränkt gegeben ist. Dieser städtebauliche Mangel lässt sich nicht durch Architektur beheben, in der Architektur kann man aber planerisch auf diesen Umstand reagieren. Oberlichtsysteme leiten Tageslicht tief in die Gebäude und haben bei gleicher Grösse einen deutlichen Vorteil gegenüber vertikalen Fensteröffnungen. Geringere Raumtiefen können auch eine Antwort auf diese Anforderungen sein oder die Anordnung der Raumfunktionen nach der Tageslichtverfügbarkeit, es gibt verschiedenste Wege, sich der Tageslichtversorgung zu nähern. Allen gemein ist einerseits das Wissen um die Verfügbarkeit der Ressource Tageslicht, andererseits der Wille, diese Ressource möglichst vielen Bewohnern des Gebäudes zugutekommen zu lassen.
Je nachdem, wie man planerisch auf den Tageslichteintrag eingeht, entstehen Innenräume, in denen der ausreichende Eintrag von Tageslicht zur Nichteinhaltung des sommerlichen Wärmeschutzes oder vergleichbarer gegenläufiger Forderungen führt. Dieser Zielkonflikt kann durch einen frühen (gesamtplanerischen) Blick auf den Wert «Tageslicht» oder die Marke «Tageslicht» entsprechend planerisch abgeschwächt oder gelöst werden.
Der ausreichende Zugang zum «Grundnahrungsmittel Tageslicht» ist etwas, mit dem Architektur dem Wohlbefinden der Menschen nutzen kann. Und letztlich ist dies eine Kernkompetenz der Architekten und Ingenieure, die sich mit dem Thema Bauen beschäftigen: Wir sorgen dafür, dass sich die Menschen in den durch uns geschaffenen Räumen wohlfühlen. Und dieses Credo schliesst Stadt, Land und Innenräume jedweder Art ein. ●
«Lichtmangelerscheinungen waren schon einmal – und werden jetzt wohl wieder – eine Art Zivilisationskrankheit.»
«Mit ausreichendem Zugang zum ‹Grundnahrungsmittel Tageslicht› kann Architektur dem Wohlbefinden der Menschen nutzen.»