Das Zertifikat «2000-Watt-Areal» hat sich seit Greencity zu einem Label mit Zukunftspotenzial entwickelt. Zahlreiche Entwickler lassen sich von Firmen wie Intep beraten, wie die Nachhaltigkeitsziele – quantitativ und qualitativ – des Labels geplant, umgesetzt und im Betrieb aufrechterhalten werden können.
Daniel Kellenberger von Intep gibt im folgenden Interview Auskunft über die Herausforderungen für Entwickler und Gemeinden, damit diese das Zertifikat nicht nur für die Planungsphase bekommen, sondern auch im Betrieb aufrechterhalten können, sodass die Rezertifizierung gelingt.
Im Zusammenhang mit unserem Schwerpunktthema Stadtentwicklung ist natürlich auch das Label «2000-Watt-Areal» von grossem Interesse. Was hat sich seit der Erstvergabe des Zertifikats an die Grossüberbauung Greencity verändert? Welchen Herausforderungen müssen sich die Entwickler von Arealüberbauungen heute stellen?
Beginnen wir doch gleich mit Greencity in Zürich Leimbach. Wie Sie bereits erwähnt haben, war Greencity das erste Areal, das dieses Zertifikat erhalten hat. An diesem Beispiel haben wir bei Intep das ganze Zertifikat entwickelt. Primär ging es dabei aber um den quantitativen Nachweis, der mit Zahlen belegt werden kann: Für das Projekt wurden die Treibhausgasemission und die Primärenergie berechnet, und es wurde geprüft, ob das Projekt die Ziele des SIA-Effizienzpfads Energie einhält.
Das war allerdings vor meiner Zeit. Als ich hinzukam, reichten wir ein Projekt beim Bundesamt für Energie mit der Frage ein, ob diese Methodik, die für Greencity entwickelt wurde, nicht verallgemeinert werden kann. Sprich, ob man nicht ein Modell oder eine Methode entwickeln könne, um damit auch andere Areale hinsichtlich des SIA-Effizienzpfads Energie zu bewerten. Entsprechend haben wir eine Rechenhilfe entwickelt. Daraufhin entstand zusammen mit dem Trägerverein Energiestadt (local-energy.swiss), der Stadt Zürich und dem früheren Novatlantis die Idee eines Labels mit dem Ziel, die quantitativen Anforderungen um einen qualitativen Bewertungskatalog zu ergänzen. Dabei sollte der Fokus weg vom Energiestadtkatalog mit einer Gemeindesicht hin zur Arealsicht gehen.
«… der Städtebau ist noch lange kein Garant dafür, dass es auf einem Areal ein gutes Zusammenleben gibt. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall.»
Daniel Kellenberger
Im ersten Entwurf war der Städtebau nicht Teil der Kriterien. Was der Themenbereich Städtebau und Arealnutzung später aufgenommen hat, waren der Nutzungsmix (das Quartier der kurzen Wege, um die Mobilität zu reduzieren), die Qualität des Projektauswahlverfahrens und der Anteil Erdgeschossnutzung. Auch der öffentliche Raum, die Aussenraumgestaltung und die Aufenthaltsqualitäten waren Bestandteil. So wird der Städtebau bei der Zertifizierung heute stärker bewertet.
Sie greifen mit der Zertifizierung in die Qualitäten des Städtebaus ein?
Nein, wir bewerten nicht den Städtebau. Dafür gibt es genügend Architekten, die kompetent sind. Wenn diese darüber befinden, dass der Städtebau gut ist, dann ist das für uns auch in Ordnung. Worauf wir schauen, ist, dass Energie- und Klimathemen im Wettbewerb, in der Ausschreibung enthalten sind und dass es eine Vertretung in der Jury gibt, die das vertreten kann. Nicht nur Greencity ist städtebaulich umstritten, auch beim Projekt Erlenmatt West in Basel von Losinger Marazzi war die Stadt überhaupt nicht glücklich über den städtebaulichen Entwurf. Erlenmatt West ist insofern ein interessanter Fall, weil die Siedlung von den Bewohnerinnen und Bewohnern wirklich in Beschlag genommen wurde. Das mag jetzt vielleicht eine provokative These sein, aber ein guter Städtebau ist noch lange kein Garant dafür, dass es auf einem Areal ein gutes Zusammenleben gibt. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: Je «katastrophaler» der Städtebau, umso mehr nehmen die Leute ihren Wohnort in Anspruch und versuchen, etwas zu bewirken, weil es für sie ein Bedürfnis ist.
Aber es braucht immer Leute, die sich dafür engagieren, ansonsten funktioniert so ein Zusammenleben nicht.
Bei Erlenmatt West war es tatsächlich so, dass Losinger Marazzi das Projekt weiterbegleitet hat. Man suchte sogenannte Ambassadeure, um sicherzustellen, dass sich Leute finden, die Aktivitäten organisieren, die Meetings mit den Bewohnern planen und die Energie ins Zusammenleben stecken. Es hat funktioniert.
Diese Begleitung von Losinger Marazzi nach Bezug der Siedlung: Gehört das zum qualitativen Kriterienkatalog von «2000-Watt-Areal»?
Ein wichtiger Themenbereich des Zertifikats sind Kommunikation, Kooperation und Partizipation. Dieser Bereich hat ein grosses Gewicht. Ist das Areal im Betrieb, dann benötigt es Massnahmen, um die Zertifizierung zu erhalten. Es braucht Veranstaltungen, die in einem Kommunikationskonzept festgehalten sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen einbezogen werden. Je stärker, desto besser. Im Minimum müssen sie informiert werden, im Maximum involviert werden, um mitgestalten zu können. Das ist vielleicht etwas verwirrend mit dem Begriff «2000-Watt-Areal», der suggeriert «ah, es ist nur Energie». Das stimmt aber nicht, denn wir wollen auch eine Minderung der Treibhausgasemissionen erreichen und drittens die soziale Nachhaltigkeit fördern.
Diese Massnahmen können allerdings erst im Betrieb geprüft werden.
Der Themenbereich Kommunikation, Kooperation und Partizipation wird bereits in der Planungsphase bewertet. Es gibt in der ersten Phase einerseits die Kommunikation nach aussen, mit der Gemeinde, mit den Medien usw. Andererseits geht die Kommunikation nach innen, wenn das Areal realisiert ist. Dann stehen die Nutzer im Zentrum. Aber wir können es natürlich schon in der Planungsphase bewerten, indem der Nachweis erbracht wird, dass beispielsweise Gemeinschaftsräume, Sharing-Angebote oder Räume für solche Dienstleistungen vorhanden sind.
Welche Projekte begleiten Sie gerade im Moment, und was ist genau Ihre Rolle als Berater?
Ich trage mehrere Hüte. Zum einen bin ich Senior Consultant bei Intep. Hier bin ich involviert in die Beratung von Arealen in Entwicklung und im Betrieb. Wir haben Swiss Re und Zurich Versicherungen mit ihrem Hauptsitz begleitet und begleiten zurzeit die Lokstadt Winterthur, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Mit dem zweiten Hut bin ich Regionalleiter der «2000-Watt-Areale», ein Mandat des Bundes für drei bis sechs Jahre, bei dem ich für die 2000-Watt-Areal-Beratenden zuständig bin und alles unternehmen darf, damit es mehr Zertifikate gibt.
Es scheint den Eindruck zu machen, dass zahlreiche Entwickler auf die Schiene des Zertifikats «2000-Watt-Areal» eingeschwenkt sind.
Das wäre der Wunsch, aber das ist natürlich nicht so. Es gibt immer noch viele Entwickler, bei denen die Rendite vorrangig ist. Aber der Druck steigt mit der ganzen Klimabewegung. Viele Gemeinden haben Verpflichtungen, denen sie nachkommen müssen. Und wenn es um Energie und Klima geht, dann ist dieses Zertifikat natürlich naheliegend.
Sie haben gesagt, dass es bei der qualitativen Bewertung auch sehr stark um Aussenraumqualitäten geht. Andere Städte haben sich im Bereich Regenwassermanagement in jüngster Zeit hervorgetan. Wie sieht es beim «2000-Watt-Areal» damit aus?
Wasser ist ein grosses Thema: den Trinkwasserverbrauch über Regenwassernutzung zu reduzieren. Das gilt auch für den Aussenraum: Wichtig ist eine Vegetation, die resistent ist. Und seit zwei Jahren gehört die Klimaadaption ebenfalls in den Themenbereich Arealnutzung und Städtebau.
Können Sie das kurz erläutern?
Das Areal muss so geplant und gebaut werden, dass die Erhitzung minimiert werden kann. Es muss auf eine gute Durchlüftung geachtet werden, damit am Abend ein Kühleffekt entstehen kann. Es soll viel Grün geben und eventuell auch Oberflächengewässer sowie Bäume, die beschatten, damit die Leute auch an heissen Sommertagen draussen sind. In gewissen Arealen gibt es einen asphaltierten Platz, aber kein Grün, nichts. Dort wird sich im Sommer niemand aufhalten.
Sie haben erwähnt, dass Agglomerationen vermehrt an einem Zertifikat interessiert seien.
Die Stadt Zürich hat kein direktes Interesse am Zertifikat «2000-Watt-Areal». Sie ist der Meinung, dass ihr Regelwerk und die Gesetzgebung für eine nachhaltige Entwicklung genügten. Aber wir hoffen, dass es in den Agglomerationen zu einem Argument werden kann für die Jugend, die jetzt auf die Strasse geht, um für mehr Klimaschutz zu demonstrieren und später an Orten wohnen möchte, wo sie die Klima- und Energieeffizienz leben kann. Weil es ein Label ist, soll es den Gemeinden helfen, dass der Vollzug bezüglich nachhaltiger Arealentwicklung gelingt. Es ist das Bundesamt für Energie, welches das Zertifikat vergibt. Das Bundesamt ist unabhängig. Wir sind unabhängig. Da muss die Gemeinde keinen Finger mehr rühren.
Gibt es auch kleinere Gemeinden, die das Zertifikat anstreben?
Ja, die gibt es. Horgen zum Beispiel mit dem Areal Trift. Es befindet sich unterhalb der Autobahn am Dorfrand. Das Areal wurde zertifiziert und wird soeben rezertifiziert. Aber es ist schwierig. Das Problem auf dem Land ist, dass man hier weniger dicht und hoch bauen kann. Wenn der Baukörper nicht kompakt ist, dann gibt es pro Quadratmeter Energiebezugsfläche relativ viel graue Energie, und es geht viel Energie über die Gebäudehülle verloren. Dann ist natürlich auch die Mobilität eher problematisch. In der Betriebsphase kann die Mobilität umweltfreundlicher und effizienter werden, wenn die Siedlung selbst beispielsweise Ladestationen anbietet und Energie selbst produziert sowie Elektrofahrzeuge den Bewohnern zur Verfügung stellt.
«Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen einbezogen werden. Je stärker, desto besser.»
Daniel Kellenberger
Weil die Leute nicht bereit dafür sind?
Während der Planung stützt sich die Bewertung auf einfache Modelle, die auf einem durchschnittlichen Mobilitätsverhalten beruhen. Die Möglichkeit, das Modell zu beeinflussen, ist relativ klein. Um dennoch im Betrieb gut abzuschliessen und zu zertifizieren, setzen wir alles daran, die Voraussetzungen für einen tiefen Anteil motorisierten Individualverkehrs zu schaffen. Aber es ist schon so: Je weiter weg von der Stadt, je schlechter mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen, umso unrealistischer ist es, überhaupt ein solches Areal zu zertifizieren. Wir haben uns sogar überlegt, ein Zertifikat für ländliche Gebiete zu entwickeln, haben uns dann aber dagegen entschieden. Das ist jetzt meine persönliche Meinung: Dass in ländlichen Gebieten mehr gebaut wird, sollte nicht gefördert werden. Lieber in den Agglomerationen weiter qualitativ verdichten.
Gibt es Punkte in der Zertifizierung, die immer wieder diskutiert werden müssen?
Die Anforderung an eine hohe Personenbelegung ist immer wieder ein Thema. Verdichtung ist ja gut und recht, aber wenn man dann Wohnungen im Luxussegment erstellt (beispielsweise im Zölly-Turm an der Hardbrücke), ist der Nachhaltigkeit auch nicht gedient. Entsprechend versuchen wir, die Quadratmeterfläche pro Person zu reduzieren. Das hat ein grosses Gewicht bei der Bewertung. Bei Genossenschaften ist es relativ einfach, unter oder auf den geforderten Schnitt zu kommen. Bei den Eigentumswohnungen ist das aber nach wie vor ein Diskussionspunkt. Auch die Parkplatzzahlen geben immer wieder Anlass zu Diskussionen. Mit einem Parkplatz pro Wohneinheit muss die Effizienz anderweitig kompensiert werden können. Das ist nicht immer einfach.
Gibt es Ideen, das Zertifikat auf andere Themen auszuweiten?
Bauen im Bestand ist neu hinzugekommen. Vorher waren es nur Neubauten in Entwicklung und Betrieb. Aber wenn man der Energiestrategie näherkommen möchte, muss man auch auf den Bestand fokussieren. Somit können neu Quartiere, die nachhaltig transformiert werden, zertifiziert werden.
Zudem planen wir, näher an das Programm Smart City zu rücken. Smart City ist bei Gemeinden sehr beliebt, vermutlich weil es keine klare Definition und Anforderungen gibt und die Gemeinde somit frei ist, was und wie viel sie machen möchte. Wir versuchen nun, über ein Add-on zum «2000-Watt-Areal» mögliche Smart-City-Massnahmen zu fördern. Das ist eine grosse Herausforderung, weil das Zertifikat im Grundsatz keine Massnahmen vorgibt, sondern es den Anwendern überlässt, wie sie die Ziele erreichen möchten. Zudem belohnt das «2000-Watt-Areal» keine Smartness (Intelligenz), sondern Massnahmen, die einen klaren Beitrag an die Energie- und die Klimaziele des Bundes sowie an die Sozialverträglichkeit leisten. ●