Landschaftsarchitektur – Lebe dein grünes Wunder
Heimat im Wandel: Die Ruhrmetropole Essen hat in den letzen Jahren neue Freiräume erhalten, die auch zu einer neuen Leichtigkeit geführt haben.

Wir leben in revolutionären Zeiten. 200 Jahre nach der industriellen Revolution krempelt die digitale Revolution unsere Gesellschaften um, verändert unser Denken und Handeln. Ein sichtbares Merkmal der Digitalmoderne ist die Vernetzung. Vernetzung wovon? Und womit?Die industrielle Revolution hatte im 19. Jahrhundert auch eine urbane Umwälzung ausgelöst. Der Schritt aus der gefestigten Stadt über ihre mittelalterlichen Stadtmauern hinaus, das Schleifen von Wallanlagen, war ein Schritt ins Freie, ein Schritt in die Landschaft. Dabei ging die Erweiterung des Städtischen in der Regel auf Kosten des Natürlichen. Die Zukunft der Stadt wurde weiterhin vom Gebauten aus definiert, Natur blieb Dekor und durfte sich höchstens als gestaltete Parkanlage wie eine von Gebäuden und Strassen umflossene Insel ausdrücken. Aus dem umgebenden Land wurde derweil eine «Zwischenstadt», und die wachsenden Städte drohten zur Peripherie ihrer selbst zu werden.
Vernetztes Grün ist die Zukunft
Doch wir leben in revolutionären Zeiten. 200 Jahre nach der urbanen Revolution führt ein neues Bewusstsein dazu, dass sich die Parameter ändern. Landschaft ist längst keine passive Ressource mehr. Sie dringt in unsere Städte vor, wo die Menschen wieder mit Natur verbunden werden wollen und der Stadtbürger als Anwalt seiner Umwelt auftritt. Aufgelassene Industrie- oder Infrastruktureinrichtungen schaffen Freiräume. Und nicht zuletzt erfordert der Klimaschutz ein radikales Umdenken. Natur übernimmt in diesem Prozess eine Rolle, die für die digitale Revolution auf anderen Ebenen existenziell ist: Sie vermittelt und vernetzt.
Es sind also die neuen urbanen Landschaftsnetzwerke, welche die Entwicklung der Städte vorantreiben. Grüne Netzwerke, die zwischen den Grundbedürfnissen Wohnen und Wirtschaften, Bewegen und Erholen vermitteln. Grüne Infrastrukturen werden als gesellschaftliche Pflichtaufgabe angesehen und inzwischen von der öffentlichen Hand mit Investitionen gefördert. Ein Prozess, der als nationale Strategie seinen Ausgangspunkt im Städtegeflecht der Metropole Ruhr hatte.
Landschaft denken
Beispielgebend für eine Neudefinition der Metropole Ruhr ist die Emscher-Renaturierung, die vor einem Vierteljahrhundert mit der Internationalen Bauausstellung IBA Emscher Park ihren Anfang nahm. Solch ein gewaltiges Thema wie die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets konnte man seinerzeit nur mit einer internationalen Bauausstellung stemmen – der ersten IBA, die sich als zentrales Thema um Landschaft kümmerte. 20 Jahre Feinarbeit des Regionalverbands Ruhr am Emscher Landschaftspark und der Umbau des Abwassersystems der Emscher durch die Emschergenossenschaft folgten. Die Grüne Hauptstadt Europas – Essen 2017 – führte zuletzt dazu, dass die Landschaft in den Städten der Region nicht nur eine grüne, sondern auch eine soziale Infrastruktur formte. Eine soziale Infrastruktur, die Grundlage für die Städte der Zukunft bietet und zugleich Stadt-Landschaft als Träger kollektiver Erinnerung wiederentdeckt – Beispiele: UNESCO-Welterbe Zollverein und Krupp-Park Essen.
Das Betreten neuer Felder heisst, soziale Distanzen zu überbrücken und neue Beziehungen zu schaffen. Das Essener «Strahlenmodell» im Masterplan «Freiraum schafft Stadtraum» und das Programm «Neue Wege zum Wasser» sind Prozesse, die viele Hundert Einzelprojekte sammeln, bewerten und integrieren. Regionale Player stehen neben kommunalen, bürgerschaftlich organisierte neben professionellen. Aus Modellen werden Projekte, die wachsen. In der Landschaft und in den Städten werden grüne Strahlen und natürliche Bypässe gesetzt, doch es geht plötzlich nicht mehr um den Strahl oder den Bypass, sondern darum, dass das umgebende Gewebe neu belebt wird. Rund 250 000 Menschen können heute in Essen über die «Neuen Wege» direkten Zugang zum Wasser finden.
Da, wo Robert Schmidt, Gründervater des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, in seinem weitsichtigen Stadtmodell der 1920er-Jahre organisch gedacht hatte, nimmt man dieses Denken heute wieder auf. Dafür sind sowohl die Umsetzung von Plänen und konkrete Arbeit vor Ort als auch Kopfarbeit notwendig. Kommunikation wird überlebenswichtig. Aus dem Park wird ein Freiraum und aus den Freiräumen eine grünblaue soziale Infrastruktur, in der wir leben, wohnen und arbeiten.
Freiraum braucht Visionen
Hätte diese Region nicht mit dem «Blauen Himmel über der Ruhr» von Willy Brandt neue Visionen gehabt, wären wir sicherlich heute nicht dort, wo wir sind. Aus dem grauen Revier wurde über viele Etappen eine grüne Metropole.
Visionen entwickeln heisst heute: Zusammenarbeit, regionale Entwicklungskonzepte, Integration von verschiedenen Akteuren und Disziplinen in eine strategische Raumplanung überführen, die dem Freiraum gezielt ihren Stellenwert gibt. Zusammen denken und handeln lernen wir in den grenzübergreifenden Strukturen des Ruhrgebiets, weil wir hier ein vielschichtiges Potenzial haben, das es anderswo in dieser Art nicht gibt.
Wir sind auf einem guten Weg, doch würde jeder Stillstand einen Rückschritt bedeuten. Auf Zollverein gab der Bund deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA) 2016 mit dem Regionalverband Ruhr (RVR) einen Anstoss in der Kick-off-Veranstaltung «Grüne Infrastruktur». Die Revolution hat gerade erst begonnen. Wegmarken weisen in die Zukunft: die «klimametropole ruhr 2022» und die IGA 2027 in der Metropole Ruhr. Veranstaltungen, Formate, die 53 Kommunen unter Beteiligung regionaler Partner miteinbeziehen.
Die grüne Dekade
Vor uns liegen spannende zehn Jahre, liegt eine «grüne Dekade». Sieben Grünzüge sind im Ruhrgebiet zwischen Ruhr, Emscher und Lippe als bestehende Struktur, als Erbe der Kultur gegeben. Die Siedlungsentwicklung ist ganz neu zu definieren, nach einem ökologischen Fussabdruck für die 53 Städte, die sich entsprechend positionieren und dann neue Projekte blühen lassen, aus der eine grüne Infrastruktur wächst.
2027 und darüber hinaus: «2027 plus» ist eine in die Zukunft offene grüne Dekade. Anderswo wird zum Glück auch mit landschaftlich vernetzten Projekten geplant. München läuft auf «Entschleunigung, Verdichtung, Umwandlung» im Freiraumkonzept 2030 zu. Berlin entwickelt die Strategie der Stadtlandschaften: «Natürlich, urban, produktiv». Wien denkt bei der Neuauflage des STEP 2035 offensiv über ein effizientes Grün- und Freiraumkonzept nach. Alle rüsten weit über 2030 hinaus. Im europäischen Zusammenhang sind die Nordländer Avantgarde. Aber sogar Metropolregionen wie Paris, London oder Mailand haben sich inzwischen auf den Weg gemacht.
Unsere Herausforderungen sind der Klimawandel, die neuen Formen des Zusammenlebens und letztlich die Steigerung der Leistungsfähigkeit unserer urbanen Systeme. «Nature-based Solutions» nennt die Europäische Union das. Die Ruhrmetropole kann dabei ein Katalysator sein. Sie steht mitten in einem Prozess und symbolisiert das auch als Blaupause für eine erlebbare grüne Zukunft. Die Stadt ist nicht tot, in grünen Vernetzungen findet sie sich wieder und lebt auf.
In seinem Roman «Die unsichtbaren Städte» erzählt Italo Calvino vom Herrscher des Tatarenreichs, Kublai Khan, der Berichte von einem fiktiven Marco Polo über die Städte in seinem unübersichtlichen Reich entgegennimmt und mit ihm über Stadtmodelle diskutiert.
«Ich will dir erzählen, was ich heute Nacht geträumt habe», sagt er zu Marco. «Mitten auf einer flachen gelben, von Meteoriten und erratischen Blöcken überstreuten Ebene sah ich von weither die Zinnen einer Stadt mit spitzen Türmen, die so beschaffen waren, dass sich der Mond bei seiner Wanderung einmal auf diesem, einmal auf jenem niederlassen oder auch an die Seile der Kräne hängen und schaukeln könne.»
Und Polo: «Die Stadt, von der du träumtest, ist Lalage. Diese Einladungen zum Verweilen unter nächtlichem Himmel bereiten seine Einwohner, damit der Mond allem und jedem in der Stadt gewähre, zu wachsen und wiederzuwachsen ohne Ende.»
«Da ist noch etwas, was du nicht weisst», fügte der Khan hinzu. «Aus Dankbarkeit verlieh der Mond der Stadt Lalage ein weit selteneres Privileg: in Leichtigkeit zu wachsen.» ●
Italo Calvino: «Die unsichtbaren Städte» (Hanser, München 1984)




