Siedlungsbau – Naturverwoben, städtisch verdichtend
Auf dem Areal der ehemaligen Baumwollspinnerei in Kolbermoor entsteht durch Behnisch Architekten eine neue Wohnüberbauung. Unter Bezugnahme auf den historischen Standort und im Hinblick auf städtische Verdichtung wandelt sich der Spinnereipark zu einem neuen attraktiven Anziehungspunkt.

Seit der Inbetriebnahme 1863 hat die Baumwollspinnerei die Stadtentwicklung im deutschen Kolbermoor massgeblich beeinflusst, woraus unter anderem ein von den Fabrikeigentümern angelegter Park mit Spinnereiweiher und der aus spiralförmigen Wegen bestehende Schneckenberg resultierten. Nach der Stilllegung 1992 folgte ab 2008 der Wandel vom industriellen zum vielfältigen Quartier. Nach sukzessiver Sanierung und Umnutzung beherbergt die denkmalgeschützte Baumwollspinnerei heute unter anderem die Akademie der Bildenden Künste, Gewerbe und moderne Loftwohnungen.
Stärkung des Stadtzentrums
Mithilfe der Neugestaltung des ehemaligen Areals der Baumwollspinnerei durch Behnisch Architekten erhält der Ort eine Überbauung, die – ausgehend vom Stadtzentrum – bis in die Randgebiete identitätsstiftend wirkt. Entstanden ist eine Kombination aus historischem Baubestand und modernen Neubauten für Wohnen, Gewerbe sowie Naherholung. «Die städtische Ausdehnung ist in Kolbermoor relativ begrenzt, sodass sich das Quartier durch seine Nähe zum Stadtzentrum, zum Bahnhof und zu anderen wichtigen städtischen Funktionen als Stärkung des Zentrums, als innerstädtische Verdichtung sieht», sagt Florian von Hayek, Projektleiter Wohnen im Spinnereipark und Director bei Behnisch Architekten. Die Bebauung bildet zum öffentlich zugänglichen Park hin zugleich einen schützenden Rahmen – vor dem sich westlich anschliessenden Gewerbe, den nördlich angrenzenden Lärmquellen und Verkehrswegen wie Bahn und Strasse.
Statt eines übergeordneten Masterplans ergab sich für das Architekturbüro innerhalb von Einzelprojekten die Möglichkeit zur nachträglichen Neu- und Weiterentwicklung der angrenzenden Gebiete. Was 2008 mit dem Flächenkonzept für den öffentlichen Raum rund um die «Alte Spinnerei» begann, setzte sich 2010 mit der Bebauung des neuen Rathauses fort und mündete in die Arealumnutzung des Georg-Aicher-Geländes. Die Lage zum Mangfallkanal eint diese drei Gebiete, die in den kommenden Jahren sukzessiv fertiggestellt werden.
Der Mangfallkanal ist unter mehreren Gesichtspunkten wichtig für das Quartier. «Zum einen fungieren die begleitenden Uferwege als Fuss- respektive Radwege, insbesondere als regionale Radverbindung nach Rosenheim. Zum anderen bringt der Mangfallkanal mit seinem kühlen Wasser klimatische Vorteile und fördert als Frischluftschneise die Durchlüftung des Parks», sagt von Hayek.
Bestehendes im Wandel
Der Spinnereipark schliesst im Westen an die historischen Bestandsgebäude an und erstreckt sich nördlich des Mangfallkanals bis zur Conradtystrasse und zur Bahnlinie Bad Aibling–Rosenheim. Das städtebauliche Konzept zur Entwicklung eines vielfältigen Quartiers sah zur Verkehrslärmreduzierung eine Verschiebung der Conradtystrasse nach Norden, den weitgehenden Erhalt des Baumbestands und eine Konzeption zweier Gebäudetypen vor: fünf Y- und vier Conradty-Häuser. «Die Höhenentwicklung wurde in der Bauleitplanung teilweise skeptisch gesehen, da es bisher kein sechsgeschossiges Gebäude in Kolbermoor gab. In der öffentlichen Diskussion wird das Quartier Spinnereipark jedoch positiv aufgenommen», verrät der Architekt. Die äusserlich homogen gestalteten vier- bis sechsgeschossigen Gebäude variieren deshalb in der nach Osten und Westen abnehmenden Höhenausprägung als Übergang zu den Bestandsgebäuden.
Während sich die Loftreihenhäuser und das Wohnhaus am Rosengarten in Körnung und Form aus den historischen Bestandsgebäuden ableiten und diese variieren, entwickeln sich die Haustypologien im Park davon frei, verzahnen sich mit dem Park und dem Baumbestand.
Die 2019 fertiggestellten und als Solitäre geplanten Y-Häuser verdanken ihren Namen der geometrischen Grundrissform, die eine individuelle Raumaufteilung ermöglicht. Ausgehend von einem massiven Kern, lösen sich die Y-Arme der fünf- bis sechsgeschossigen Baukörper zu den Enden visuell auf – als Referenz auf den umliegenden Baumbestand. Die Pfosten-Riegel-Glasfassade und die daran angeschlossenen prägnanten, horizontalen Bänder der Balkonbrüstungen bilden einen Kontrast zu der ansonsten überwiegend geschlossenen Fassade mit vorvergrauter Holzschalung. Weisse an- und absteigende Brüstungen der weit ausladenden, zueinander versetzten Balkone und Terrassen erzeugen Lebendigkeit. Denn die fliessenden Bewegungen initiieren das harmonische Zusammenspiel mit der Naturkulisse. «Unsere Umwelt hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensqualität im Wohnumfeld, im öffentlichen Bereich und in allen Zwischenbereichen. Diese Gewichtung der gesellschaftlichen Dimension ist ein grundlegender Aspekt unserer Arbeit, die von dem Grundgedanken ausgeht, dass Architektur den Bedürfnissen der Menschen dient – geistigen wie materiellen», begründet der Architekt die im Spinnereipark entstandene Symbiose.
Warme erdige Farben
Die vier- bis fünfgeschossigen und polygonal angeordneten Conradty-Häuser erzeugen einen Riegel zur Strasse und zur Bahntrasse. Die Wohnungen werden über die nach Norden ausgerichteten Treppenräume erschlossen. Grosszügig verglaste Wohn- und Schlafräume orientieren sich zur Parkseite. Geschoss- respektive brüstungshohe Fassadenbänder in Holzverkleidung und variierenden Breiten beeinflussen den Grad der Durchsichtigkeit. Zurückversetzt sind die obersten Geschosse mit dunkler und leicht reflektierender Fassade. Besucherparkplätze entlang der Conradtystrasse entlasten den Park weitgehend von Verkehr.
Die natürlichen Einflüsse der Umgebung bestimmten ebenso die Materialisierung. Eine Lochfassade mit sägerauer Holzschalung und erdig-braunen und silbernen Farbtönen ziert die Y-Häuser. So entsteht der Eindruck einer organisch gewachsenen Bebauung. Während die Treppenräume der Y-Häuser in Grün-Gelb inszeniert und von einer rückwärtigen Sichtbetonschalung kontrastiert sind, präsentieren sich die zentral angeordneten Erschliessungskerne der Conradty-Häuser in gelblich-orange-rötlichen Farben. Warmes Eichenholz an Handläufen und Wohnungseingangstüren sowie die Decken in Sichtbeton setzen farbliche Akzente zu den in Weissputz gehaltenen Seitenwänden der Wohnungen.
Ein im nordöstlichen Teil des Quartiers entstehendes und an das örtliche Nahwärmenetz angeschlossenes Blockheizkraftwerk stellt künftig durch Wärme-Kraft-Kopplung Elektrizität und Wärme bereit. Im aktuellen dritten Bauabschnitt werden die Y-Häuser und das Conradty-Haus C2 fertiggestellt. Die Komplettierung der Conradty-Häuser wird noch bis 2025 dauern. ●
Bautafel
Objekt Arealentwicklung Spinnereipark
Standort Kolbermoor, Deutschland
Bauherrschaft Quest AG und Werndl & Partner GmbH
Architektur Behnisch Architekten, München
Planung und Fertigstellung 2015 – 2019 (1. Bauabschnitt)
Bruttogeschossfläche 8020 m²
Bruttorauminhalt 23 730 m³












