Gesellschaftlich durchmischt

Vier unterschiedlich hohe Wohnkörper – mit robuster Architektursprache, zentralem Begegnungshof, differenzierten Freiräumen. Die Wohnüberbauung in Bern zeigt eine plausible Antwort auf die Anforderungen des zeitgemässen, kommunalen Wohnungsbaus.

Die Gebäude orientieren sich durch die rechtwinklige Anordnung und Höhenstaffelung an den Gebäuden des benachbarten Wohnheims Rossfeld. (Fotos: Rolf Siegenthaler)

Die Wohnüberbauung an der Reichenbachstrasse auf der sogenannten «Engehalbinsel» innerhalb der Aare-Flussschleife im Norden der Stadt Bern gilt als die zweite grössere Überbauung, welche die Schweizer Hauptstadt jemals selbst als Auftraggeberin realisiert hat. Mit über hundert Wohnungen wertet die Anlage das landschaftlich als auch stadträumlich mit hoher Diversität ausgestattete Gebiet auf, das sich im Stadtteil Rossfeld befindet, ungefähr drei Kilometer vom Stadtzentrum und dem Hauptbahnhof entfernt. Seit geraumer Zeit verfolgt die Stadt Bern das Ziel, über ein angemessenes Wohnungsangebot für alle Bevölkerungsgruppen zu verfügen. Um der Preissteigerung auf dem Mietmarkt entgegenzuwirken, wird deshalb auch der gemeinnützige respektive genossenschaftliche Wohnungsbau, mithin bestmögliche Voraussetzungen für eine zeitgemässe, soziale, wirtschaftlich und baulich optimierte Wohnbautätigkeit gefördert. In diesem Sinne wurde 1985 der Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik als gemeindeeigene Unternehmung geschaffen; dieser hat wiederum Immobilien Stadt Bern als Baufachorgan beauftragt, Bauprojekte für Liegenschaften im Finanzvermögen umzusetzen.

Das Projekt, das aus einem offenen einstufigen Wettbewerb im Jahr 2017 hervorgegangen ist, erfüllt den Auftrag einer gemeinnützigen Wohnüberbauung in einem denkmalpflegerisch anspruchsvollen Gebiet – unter hohen ökologischen Anforderungen und Zielen. Die «Engehalbinsel» gilt als spannender Landschafts- und Lebensraum; sie verfügt über Naherholungsräume mit Wald und Wasser und dem beliebten «Zehndermätteli», einem offenen Gelände auf dem sonst bewaldeten nördlichen Inselgebiet.

Strategie des Weiterbauens

Ausgrabungen erzählen zudem von einer lebendigen insularen Bau- und Siedlungsgeschichte, die zurückgeht bis in die Latènezeit (5. Bis 1. Jahrhundert v. Chr.) und in die Zeit der Kelten. Die Arena des ausgegrabenen Amphitheaters hat die Architekten für die Form des Hofes inspiriert, über den alle Nutzungen der neuen Wohnanlage zentral erschlossen sind.

Die vom Büro B Architekten aus Bern entwickelte Überbauung überzeugt in den drei Nachhaltigkeitsbereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt und erfüllt die Anforderungen der 2000-Watt-Areal-Zertifizierung. Ebenso integriert sie sublim die Themen städtebauliche Einpassung, architektonische Qualität, Freiraumqualität, Quartierverträglichkeit, Nachbarschaft, Nutzungsqualität, wirtschaftliche Tragbarkeit und Bauökologie. Die Wohnvolumina stehen dabei auf einem sich in der Mitte der Halbinsel erhebenden Plateau des Rossfeldquartiers, das geprägt ist von denkmalgeschützten Liegenschaften mit hoher Mineralität (Sichtbeton, Sichtbackstein) aus der Nachkriegszeit resp. den 50er- bis 70er-Jahren. «Wir wollten Bauten entwerfen, die aufgrund ihrer Anordnung und ihres Ausdrucks schon immer da gewesen sein könnten», betont Christopher Berger, Architekt und Büro-Mitinhaber. Bauten, die sich trotz der hohen ökologischen Anforderungen am mineralischen Bestand und den vorhandenen Qualitäten orientieren und sich so ins Quartiersbild harmonisch einfügen. Und trotzdem eine eigenständige Architektur vermitteln. Die Überbauung integriert sich trotz höherer Dichte mit grösster Selbstverständlichkeit in den unmittelbaren Kontext. Mit der Strategie des Weiterbauens ist eine Gebäudegruppe aus vier unterschiedlich hohen Gebäuden entstanden. Die beiden parallel zur Reichenbachstrasse gelegenen Gebäude sind sieben- respektive sechsstöckig, die anderen beiden vierstöckig. Die Gebäude fügen sich städtebaulich gut in die unmittelbare Umgebung ein, weil sich die rechtwinklige Anordnung und die Höhenstaffelung an den Gebäuden des benachbarten Wohnheims Rossfeld orientieren. Sie bilden durchlaufende Raumschichten und Erlebnisräume, welche zwischen den umliegenden Siedlungstypologien und ihren fliessenden Grünräumen vermitteln und damit eine räumliche Beziehung zum gebauten Umfeld herstellen. Die Wohnkörper übernehmen die Durchlässigkeit der offenen Siedlungsstruktur und gewährleisten damit spannende Blickkorridore in den und aus dem zentral gelegenen Hof, um den sich die vier Baukörper gruppieren.

Differenzierte Freiräume tragen zum attraktiven Wohnumfeld bei.

Identitätsstiftend

Der Hof bildet den Mittelpunkt der Wohnüberbauung. Er ist nicht nur für die Bewohnenden, sondern für das ganze Quartier zugänglich. Er ist Frei- respektive Interaktionsraum, der eine identitätsstiftende Adresse bildet, welcher zum lebhaften Bespielen animiert und über den die Bewohnerschaft einen starken Zusammengehörigkeitssinn entwickeln kann. Hier im prägnanten Hof, der sich in seiner arenaartigen Ausgestaltung an das zutage gebrachte Amphitheater anlehnt, pulsiert das Leben. Der Hof ist ein generationenübergreifender Begegungsort innerhalb dieser umfangreichen Wohnwelt. Hier kulminiert das, was das Wohngefüge organisiert: ein vielseitiger Mix aus Zweieinhalb- bis Fünfeinhalbzimmerwohnungen. Mehr als die Hälfte der 104 geplanten Einheiten sind Familienwohnungen mit mindestens vier Zimmern. Zudem gibt es zwei sogenannte Clusterwohnungen mit sechseinhalb Zimmern, die sich etwa für Wohngemeinschaften eignen. Die komplett hindernisfrei gestalteten Gebäude verfügen dabei je über zwei beziehungsweise drei grosszügige Eingangsbereiche.

Mittige und identische Treppen- und Liftanlagen erschliessen jeweils zwei Wohnungen pro Etage. Die Wohnzimmer erstrecken sich ausser bei den Clusterwohnungen stets über die gesamte Gebäudetiefe und ermöglichen damit das sogenannte «Durchwohnen», bei dem das Wohnzimmer von zwei Seiten optimal belichtet wird und sich Sichtbezüge zum Hof sowie Blick in die Ferne ergeben. Dieser durchgehende Wohnraum erlaubt eine maximale Reduktion der Verkehrsflächen. Die Wohnungsgrundrisse sind sehr sorgfältig ausgestaltet. Bäder mit intensiven Farben kontrastieren die Bodenständigkeit der Haupträume, die durch die verwendeten Materialien (unter anderem Massivholz, Sichtbeton) ruhig und «echt» wirken und durch das Weglassen der Türstürze «weiterzufliessen» scheinen. Durchgehend sind auch die Fusswege im Aussenraum; allesamt hinternisfrei erlauben sie eine hohe Durchlässigkeit. Entlang des peripheren, unbefestigten Wegnetzes sind einheimische standortgerechte Bäume gepflanzt.

Die Umgebungsgestaltung orientiert sich am parkartigen Bestand der Nachbarliegenschaften und schafft zugleich unterschiedliche Bereiche, um partizipative Prozesse zu fördern. Die parkähnlichen Freiräume werden weitergeführt und verfügen über eine hohe Nutzungsqualität und Aneigenbarkeit, und die Anlage ist insgesamt mit den umliegenden Quartieren gut vernetzt. Die Erschliessung aller Nutzungen erfolgt ausschliesslich über den klar gefassten und abwechslungsreich gestalteten, zurückhaltend möblierten und dadurch multifunktionalen Hofraum, dessen gemeinschaftliche Mitte etwa durch einen erdgeschossigen Gemeinschafts- und Gewerberaum ergänzt worden ist.

Das überhöhte Erdgeschoss ermöglicht sowohl angemessene Raumhöhen für die öffentlichen Nutzungen und die Wohnungszugänge als auch ein Hochparterre für sämtliche Erdgeschosswohnungen. Durch die Ausbildung des Hochparterres bleibt der Freiraum öffentlich und wird durch die Fassaden begrenzt.

Mehr als die Hälfte der 104 geplanten Einheiten sind Familienwohnungen mit mindestens vier Zimmern.

Eigenständigen Ausdruck bewahren

Sämtliche Fassaden referenzieren respektive beziehen sich auf das Erscheinungsbild der benachbarten Gebäude. Entsprechend der städtebaulichen Idee orientieren sich die Neubauten auch im Ausdruck am Vorhandenen. Die Gebäudeproportionen und die Gestaltung der Fassaden führen bestehende Qualitäten weiter und bewahren zugleich einen eigenständigen Ausdruck. Die vier Baukörper folgen denselben Gestaltungsprinzipien und basieren auf derselben Gebäudetypologie. Fern von jeglichen Modeströmungen entwickelt sie die Architektur des benachbarten Wohnheims Rossfeld weiter. Mit der gewählten Materialisierung aus Betonelementen und Faserzementtafeln entsteht ein stimmiges Gesamtensemble. Die neue Wohnüberbauung auf der «Engehalbinsel» ist eine gesellschaftlich durchmischte Siedlung mit einem Schwerpunkt auf Familien. Sie schafft für die Bewohnenden ein attraktives Wohnumfeld, welches sich durch eine gelungene städtebauliche Einbindung der neuen Baukörper in die umgebende Landschaft und das angrenzende Quartier, durch eine robuste Architektursprache und differenzierte Freiräume auszeichnet. Sie besticht durch die konsequente Umsetzung der gewählten Strategie des Weiterbauens und zeigt eine plausible Antwort auf die Anforderungen des zeitgemässen, kommunalen Wohnungsbaus. ●

Die Gebäude werden von verschiedensten Bewohnenden genutzt.
Die Balkone bieten Blick in die Umgebung.
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