Im Zeichen der Handwerkskunst

In Rutesheim entstand nach Plänen von A + R Architekten das neue Branchenzentrum für Ausbau und Fassade.

Handwerkskunst
Der kubische Baukörper wurde mit einer einheitlichen Kratzputzfassade überzogen.
Von Rainer Häupl (Text) und Brigida González (Bilder)
In Rutesheim entstand nach Plänen von A + R Architekten das neue Branchenzentrum für Ausbau und Fassade.

Über die vergangenen Jahrzehnte hat das Handwerk in Deutschland erfolgreich ein flächendeckendes Netz von überbetrieblichen Ausbildungsstätten aufgebaut. Ergänzend werden nun für die verschiedenen Gewerke nach dem sogenannten Leuchtturmprinzip Kompetenzzentren entwickelt, die übergeordnete Aufgaben übernehmen. In der baden-württembergischen Kleinstadt Rutesheim entstand nach diesem Grundsatz das neue Branchenzentrum für Ausbau und Fassade von A + R Architekten.

Gestiegene bautechnische Anforderungen

Das neue Branchenzentrum beherbergt die Geschäftsstelle des Fachverbands der Stuckateure für Ausbau und Fassade Baden-Württemberg und das Kompetenzzentrum Ausbau und Fassade. Es übernimmt im Netzwerk der deutschlandweiten Kompetenzzentren die Aufgabengebiete Putz, Fassade, Wärmedämmung und Trockenbau. Die industrielle Entwicklung und die gestiegenen bautechnischen Anforderungen führen überdies im Stuckateurhandwerk zu grossen Veränderungen des Berufsbildes. Um diesen zu begegnen, reagieren der Verband und das Kompetenzzentrum mit vielfältigen Weiterbildungsangeboten, die auch im neuen Branchenzentrum stattfinden. «Hier ist ein neuer Ort mit besten räumlichen Voraussetzungen für unsere Unternehmer und Fachkräfte von heute und morgen zur beruflichen Qualifizierung entstanden. Ein Ort, an dem die Innovationen beschleunigt in den Markt transferiert werden», sagte Rainer König, erster Vorsitzender des Fachverbands der Stuckateure für Ausbau und Fassade Baden-Württemberg, bei der Eröffnung des Branchenzentrums.

Klare städtebauliche Position

Die Vision eines Kompetenzzentrums trieb die Bauherrschaft schon einige Jahre um. Im Jahr 2012 lobte sie schliesslich einen Wettbewerb für einen Neubau aus, den A + R Architekten überzeugend mit dem ersten Preis gewannen. Bis die Bauarbeiten starten konnten, zog jedoch noch einige Zeit ins Land, da die Finanzierung erst gesichert werden musste. 2017 erfolgte schliesslich der Spatenstich, und im Sommer 2019 war der Neubau fertiggestellt. Das Branchenzentrum befindet sich in einem sehr heterogenen Industriegebiet im Westen von Rutesheim, einer Kleinstadt zwischen Stuttgart und Pforzheim. Im städtebaulichen Zusammenspiel mit den Bestandsgebäuden auf dem Baugrundstück, die Werkstätten und Ausbildungsflächen aufnehmen, formt der Neubau eine repräsentative Einheit entlang der Strasse. An den Eingangsbereich anschliessend erstreckt sich Richtung Norden der sogenannte Marktplatz. Dieser Aussenbereich wird zum einen für Veranstaltungen genutzt, zum anderen sind hier Exponate ausgestellt, welche die Vielfalt von Aussenputzen und weiteren Materialien bei der Fassadengestaltung aufzeigen. Diese können für Demonstrationszwecke auch in das Gebäude geschoben werden.

Vielfältige Nutzungen in einem kompakten Gebäude

Die Architekten entwarfen ein zeitgemässes Gebäude, das mit seiner Form- und Farbwahl deutliche Anleihen an die klassische Moderne macht. «Zeitlos, mit ruhiger Hand entworfen und in hoher Qualität ausgeführt», so beschreibt Florian Gruner, Projektleiter des Branchenzentrums und Mitglied der Geschäftsführung bei A + R Architekten, die Gestaltungsintention für den Neubau. Der kompakte Baukörper beherbergt unterschiedlichste Nutzungen. Alle Einheiten gruppieren sich um das zentrale Atrium und können über zwei Treppenhäuser getrennt voneinander erschlossen werden. Auf der Eingangsebene sind Seminar- und Konferenzräume und ein Speiseraum mit Küche angeordnet. Der grosse zweigeschossige Tagungsraum öffnet sich zum ruhigen Gartenbereich. An der Fassade gut ablesbar sind die geschuppten Fensteröffnungen nach Norden, die den Konferenzsaal gleichmässig und blendfrei mit Tageslicht versorgen. Weitere Möglichkeiten für Fort- und Weiterbildungen bieten drei kleinere Seminarräume mit Bibliothek im zweigeschossigen Gebäudeteil. Im ersten und zweiten Obergeschoss befinden sich, zur Strasse orientiert, 20 kompakte Hotelzimmer. Zum ruhigeren Innenhof liegen auf den beiden Etagen die Verbandsgeschäftsstelle und die Büroräume des Kompetenzzentrums. Eine 3-Zimmer-Hausmeisterwohnung im zweiten Obergeschoss komplettiert die Nutzungsmischung des Gebäudes. Das Attikageschoss, das die Technikzentrale aufnimmt, akzentuiert die Lage des Eingangs in das Branchenzentrum.

Viele Bauten der klassischen Moderne setzten Putz materialgerecht ein. Diesen Ansatz griff man ebenfalls für das Branchenzentrum auf und thematisierte damit gleichzeitig das Leistungsspektrum der Stuckateure. Der kubische Baukörper wurde mit einer einheitlichen Kratzputzfassade überzogen. Dieser rund 20 Millimeter dicke, einlagige Edelputz findet kaum mehr Verwendung, ist aber viel langlebiger und ökologischer als die meisten Putze, die heute eingesetzt werden. Den Sockelbereich betont ein anthrazitfarbener 9 Millimeter starker Kellenwurfputz, bei dessen Verarbeitung mehrere Vorstandsmitglieder des Verbands mit Hand angelegt haben.

Gebaute Handwerkskunst

Beim Betreten des Branchenzentrums fällt unweigerlich der Blick auf eine weitere handwerkliche Meisterleistung: Hell leuchtend hebt sich im Atrium eine skulpturale Wendeltreppe vor einer dunklen Wand ab. Die freitragende Stahlwangentreppe verbindet die Nutzungen im Erdgeschoss mit dem ersten Obergeschoss auf kurzem Weg. Die Wangen und Treppenläufe sind mit einem Kalkputz verkleidet, der zweilagig auf die Unterkonstruktion aus Stahl und Rabitzdraht aufgezogen, aufgefilzt, geglättet, mehrfach geschliffen und schliesslich aufgestuckt wurde, um die Poren zu schliessen. Nach einem Finalschliff wurde die Oberfläche noch gewachst und auf Hochglanz poliert. Ein in den Handlauf eingelegtes LED-Lichtband setzt die Treppe zusätzlich in Szene. «Die Umsetzung dieses Treppenschmuckstücks war nur möglich durch den Mut, die Motivation und die Ausführungskompetenz der Bauherrschaft. Für uns als Architekten war es sehr inspirierend mitzuerleben, wie so ein einmaliges Bauteil in Zusammenarbeit mit den Handwerksmeistern entsteht», betont Florian Gruner. Am und im Gebäude wurden nur Putze verwendet, die ökologisch und frei von Giftstoffen sind. «Im Hinblick auf das Raumklima und die Luftqualität im Gebäude sorgen die eingesetzten Putze für eine höhere Güte, die nicht nur sichtbar, sondern mit jedem Atemzug fühlbar ist», ergänzt Gruner.

Energieeffizienter Neubau

Das Branchenzentrum wurde mit tragenden Aussenwandscheiben und einer Skelettstruktur aus Stahlbeton ausgeführt. Zwei Treppenkerne mit Aufzugsschacht steifen das Gebäude aus, das in der Erdbebenzone 1 liegt. Grosses Augenmerk legten die Architekten und die Bauherrschaft auf das Energiekonzept des Neubaus. A + R entwickelten ein Haus mit einem sehr niedrigen Heizwärmebedarf auf Passivhausniveau, mit einem Stromsparkonzept und der Kompensation des Strombedarfs durch den Einsatz einer Photovoltaikanlage auf dem Flachdach. Der geringe Wärmebedarf wird über eine Sole-Wärmepumpe mit Erdwärmesonden sowie über thermische Solarkollektoren gedeckt.

Aufgrund der Qualität des Branchenzentrums für Ausbau und Fassade wurde es mit dem AIT-Award 2020 «Best in Interior and Architecture» ausgezeichnet. Der Preis prämiert seit 2012 herausragende Hochbauprojekte und Innenräume. ●

Bautafel

Objekt Branchenzentrum für Ausbau und Fassade

Standort Rutesheim

Fertigstellung 2019

Bauherrschaft Berufförderungsgesellschaft des Stuckateurhandwerks GmbH

Architektur A + R Architekten GmbH

Bruttogeschossfläche 2378 m²

Tragwerksplanung Bornscheuer Drexler Eisele GmbH

Bauphysik GN Bauphysik Finkenberger + Kollegen Ingenieurgesellschaft mbh

Heizung, Lüftung und Sanitär Ebök Planung und Entwicklung GmbH

Elektroplanung Raible + Partner GmbH & Co. KG, Planungsbüro für Elektro- und Kommunikationstechnik

Brandschutz Halfkann + Kirchner Sachverständigenpartnerschaft

Landschaftsarchitektur Glück Landschaftsarchitektur

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Das Branchenzentrum befindet sich in einem sehr heterogenen Industriegebiet im Westen von Rutesheim, einer Kleinstadt zwischen Stuttgart und Pforzheim.
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Die freitragende Stahlwangentreppe verbindet die Nutzungen im Erdgeschoss mit dem ersten Obergeschoss auf kurzem Weg. Die Wangen und Treppenläufe sind mit Kalkputz verkleidet.
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Möglichkeiten für Fort- und Weiterbildungen bieten unter anderem drei kleinere Seminarräume mit Bibliothek im zweigeschossigen Gebäudeteil.
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Am und im Gebäude wurden nur Putze verwendet, die ökologisch und frei von Giftstoffen sind.
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