Infrastrukturbauten – Oben angekommen

Dort, wo ein Tropfen seine lange Reise ins Meer beginnt, eröffnen sich neue Perspektiven: Auf der neuen Aussichtsplattform am Schnalstaler Gletscher wird der Kopf frei und der Blick weit.

Infrastrukturbauten
Von Barbara Jahn-Rösel (Text) und Alex Filz (Bilder)
Dort, wo ein Tropfen seine lange Reise ins Meer beginnt, eröffnen sich neue Perspektiven: Auf der neuen Aussichtsplattform am Schnalstaler Gletscher wird der Kopf frei und der Blick weit.

Er hat etwas Erhabenes, dieser besondere Ort ganz oben am Grat des Schnalstaler Gletschers, wo einem Italiens beeindruckende Alpinlandschaft hoch über dem Stausee zu Füssen und Österreich zum Greifen nah liegt. Doch noch etwas anderes macht diese geografische Stelle einzigartig, denn hier entscheidet sich, ob ein Wassertropfen aus dem ewigen Eis seinen Weg Richtung Schwarzes Meer oder Richtung Mittelmeer antritt.

Auf die Spitze treiben

Ganz oben an diesem aussergewöhnlichen Schnittpunkt thront das Hotel Grawand, das mit über 3000 Metern Seehöhe zu den höchstgelegenen Hotels Europas zählt. Der eigentliche Gipfel ist etwa 50 Meter weit weg. Das ist nur einen Steinwurf entfernt. Der überwältigende Ausblick auf einen fesselnden Landstrich voller schneebedeckter Bergspitzen, der für Wanderer wie Skifahrer gleichermassen attraktiv ist, lässt für einen Moment die Zeit stillstehen, denn hier ist die Natur ganz unmittelbar zu erleben: schroff, steinig, mit Wind und Wetter – einfach pur.

Echter Gipfelstürmer

Um den länger bleibenden Gästen und den Bergnomaden, die den Tag erobern, mehr als nur die atemberaubende Fahrt zur Bergstation zu bieten und auch um die faszinierende Geschichte dieses Ortes zu erzählen, hat Network of Architecture (Noa) ein aussergewöhnliches Projekt entwickelt. Unter Einbeziehung des bestehenden Gipfelkreuzes wurde eine Aussichtsplattform geplant, die als leichte Struktur aus Corten-Stahl dem Aufenthalt am Berg eine neue Qualität verleiht. Nur dort, wo es statisch notwendig ist, berührt das Bauwerk den Boden. Der Rest ist eine losgelöste, fast schwebende Konstruktion, die im Augenblick die Berge spüren und die Freiheit atmen lässt.

«Der eigentliche Gipfel ist etwa 50 Meter weit weg. Das ist nur einen Steinwurf entfernt.»

Neue Blickwinkel

Organisch geformt und damit der natürlichen Topografie folgend, besteht die Plattform aus einem Plateau mit einem Gitterrost auf schlanken Querbalken, das von vertikalen Lamellen aus Corten-Stahl umsäumt wird. Die brüstungshohen vertikalen Elemente zeichnen in ihrer Abfolge die sanften Rundungen nach. Dadurch entsteht ein magischer Effekt: ein mit der Bewegung des Betrachters einhergehendes Öffnen und Schliessen des Bildausschnitts, eine Einladung, immer wieder neue Perspektiven zu entdecken. Mit dieser Dynamik, die neugierig macht, bleibt ein beinahe sinnliches Erlebnis, das für einen Moment die Zeit stillstehen lässt und jedes weitere Souvenir in den Schatten stellt.

Eine Momentaufnahme

Apropos Zeit: In die ondulierende Form ist ein streng geometrischer Trichter eingeschnitten, der den Blick lenkt und auf etwas Faszinierendes fokussiert – den Fundort des Ötzi. Dorthin, nur wenige Meter von der österreichischen Grenze entfernt, entführt der gewählte Winkel des Trichters zu einer bewusst gelenkten, gedanklichen Entdeckungsreise zum Mann aus dem Eis. Auch dieser ist aus Corten-Stahl und überlässt wie die Lamellen der Brüstung sein Erscheinungsbild der Witterung, bis der Stahl sich dunkelbraun, grau und schwarz färbt und so eins mit der Umgebung wird. Den Abschluss bildet eine Glasbrüstung, welche die Gedanken fliegen lässt und eine atemberaubende Spannung erzeugt, weil man gefühlsmässig ins Nichts geht. ●

Bautafel

Objekt Aussichtsplattform

Standort Schnalstaler Gletscher, Südtirol (Italien)

Fertigstellung 2020

Bauherrschaft Schnalstaler Gletscherbahn AG

Architektur Network of Architecture (Noa)

Fläche 80 m2

Infrastrukturbauten
Am Grat des Schnalstaler Gletschers liegt einem die beeindruckende Alpinlandschaft zu Füssen.
Infrastrukturbauten
Organisch geformt und damit der natürlichen Topografie folgend, besteht die Plattform aus einem Plateau mit einem Gitterrost auf schlanken Querbalken, das von vertikalen Lamellen aus Corten-Stahl umsäumt wird.
Infrastrukturbauten
Infrastrukturbauten
Nur dort, wo es statisch notwendig ist, berührt das Bauwerk den Boden.
Infrastrukturbauten
Die brüstungshohen vertikalen Elemente zeichnen in ihrer Abfolge die sanften Rundungen nach.
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