Wohnungsbau – Ein Ort authentisch weiterentwickelt

Zwei neue Mehrfamilienhäuser entwickeln den Ort authentisch weiter. Sie vermitteln innerhalb der vorhandenen Siedlungskörnung, nehmen Bezug auf das Berner Bauernhaus und lehnen sich somit an Traditionelles an.

Wohnungsbau
Von Lukas Bonauer (Text) und Rob Lewis (Bilder)
Zwei neue Mehrfamilienhäuser entwickeln den Ort authentisch weiter. Sie vermitteln innerhalb der vorhandenen Siedlungskörnung, nehmen Bezug auf das Berner Bauernhaus und lehnen sich somit an Traditionelles an.

Im Kanton Bern prägt es das Landschaftsbild der letzten Jahrhunderte und ist bis heute im suburbanen Siedlungsraum anzutreffen: das Berner Bauernhaus. Ihm erweist das Architekturbüro Marazzi + Paul mit zwei neuen Mehrfamilienhäusern seine Reverenz. Die Morphologie bei der Ortsgestaltung, die laubenähnlichen Balkone wie die Nutzung als Mehrgenerationenhaus nehmen Bezug auf diese altbäuerliche Substanz. Ebenso integriert die Umgebungsgestaltung Bezüge zur umliegenden Kulturlandschaft – zum Beispiel das Thema Streuobst mit den im freien Feld vorkommenden Bäumen, welche die Landschaft mitgenerieren. Damit untermauert das Architekturbüro einmal mehr seinen Anspruch: den Ort authentisch weiterzuentwickeln. «In der suburbanen Landschaft kann man haltungslos arbeiten oder so, dass man Rücksicht nimmt auf traditionelle Elemente», betont Architekt Alfred Paul.

Disperses Siedlungsmuster

Gümligen, ein Ortsteil der Gemeinde Muri bei Bern, wird neben den eigentlichen ausgewiesenen Bauzonen durch verschiedene Landschaften wie Grüngürtel und Naherholungsgebiete geformt. Das aus lockeren Strukturen bestehende Siedlungsgefüge bietet wunderbaren Wohnraum, ist aber eine Herausforderung für neu hinzukommende Gebäude. Das disperse Siedlungsmuster ist durch eine gewisse Zerstreuung respektive Heterogenität charakterisiert. Von Anfang an leitete die planerische Prämisse den Entwurf, dass die beiden Mehrfamilienhäuser in dieser Diversität eine Mittlerrolle zwischen der vorhandenen Bebauung mit Mehrfamilienhäusern und Einfamilienhäusern spielen, zwischen neuen Siedlungsprotagonisten und – darüber hinaus – den Einzelhofgebieten, die seit jeher in sich landschaftlich geschlossen funktionieren. Hier ist das Berner Bauernhaus heimisch. Ein giebelseitig orientiertes Vielzweckbauernhaus. Ein Holzbau mit steilem, ungebrochenem ebenem Walmdach, ursprünglich strohgedeckt, seit dem 18. Jahrhundert meist mit Schindeldächern errichtet, weitgehend mit einer gewissen Zimmermannszier und seltener mit geschnitzten oder gemalten Hausinschriften und dekorativen Bemalungen der Bundvorstösse.

Bezüge zu dieser Gebäudetypologie hat die Bauverwaltung positiv gewertet, was den beiden grösseren Bauobjekten bei der Bewilligung zugutekam. Das Berner Bauernhaus dient über Generationen hinweg oft derselben Familie und ist deshalb entsprechend räumlich organisiert. Auch die beiden Mehrfamilienhäuser berücksichtigen eine soziologische Durchmischung respektive mit ihren Wohnungsstrukturen ein Mehrgenerationenhaus, wie es im klassischen Sinn beim Berner Bauernhaus der Fall ist. Der Wohnungsmix von kleinen und kompakten 3,5-Zimmer-Wohnungen bis zu grosszügigen 5,5-Zimmer-Wohnungen ermöglicht eine breit durchmischte Bewohnerschaft. Familien mit Kleinkindern, Rentnerpaare wie Alleinstehende finden hier ein neues Zuhause mitten in der Natur. Auf zwei Geschossen und einem jeweils zusätzlichen Attikageschoss entwickeln sich die insgesamt acht Eigentumswohnungen, wobei Ausbauwünsche jeweils einbezogen wurden.

Eigene Sichtbezüge

Reduzierte Erschliessungs- zugunsten hoher Nutzflächen – das ist innenräumlich die Devise. Die Wohnwelten sind luftig und lichtdurchflutet und zeichnen sich durch grosszügige Wohn- und Essbereiche mit integrierten Aussenräumen aus, die verschiedene Tageszeiten berücksichtigen und als Frühstücksbalkone oder Abendterrassen – mit genügend Freiraum zu den Nachbarn – erlebbar sind. Die oberen Geschosse bieten dabei einen fantastischen Blick Richtung Gurten, zum Berner Hausberg. Alle Einheiten verfügen über eigene Sichtbezüge und Verknüpfungen mit der Umgebung. Auch hier spielte die Nähe zur Natur bei der Planung eine entscheidende Rolle. Aus dieser komplexen Anforderung ergaben sich die vielseitigen Grundrisse. Die Raumaufteilung berücksichtigt einen durchgesteckten Wohnraum mit Küche und Essbereich. In einer zweiten Schicht entfalten sich die Schlafräume und Nasszellen. Die Balkonschicht überdeckt den Aussensitzbereich der Erdgeschosswohnungen respektive gewährleistet für alle Räume den Zugang zu einem privaten Aussenbereich. Diese der Fassade vorgelagerte, durchlaufende Balkonschicht gliedert bei beiden Gebäuden das fliessende Innenraumgefüge. Sie ordnet wiederum die Fassade horizontal und referenziert auf das typische Merkmal des Berner Bauernhauses: die als schmucke Gestaltungsschicht bekannte Aussenlaube. Die vertikale Holzschalung lehnt sich ebenso an das Berner Bauernhaus an. Sie besteht aus in der Breite alternierenden Brettern, deren verspielte Wirkung zusätzlich durch eine differenzierte Vorvergrauung verstärkt wird. Die aus vorfabrizierten Holzelementen erstellte Fassade wirkt ansonsten homogen und erzeugt deshalb ein ruhiges äusseres Erscheinungsbild, was dazu beiträgt, dass sich die beiden neuen Volumen in die gebaute Umgebung und ihre Diversität einfügen.

Die beiden Mehrfamilienhäuser ersetzen dabei zwei bestehende Substanzen auf dem Grundstück, nutzen die Parzelle optimal aus und bilden eine klare Adresse. Durch ihre Kompaktheit generieren sie attraktive, den verschiedenen Zwecken (Spielen, Aufenthalt, Begegnung usw.) zugeteilte Aussenräume. Der eine Baukörper ist längsseitig parallel zur Strasse positioniert, der andere leicht dahinter und nach Nordosten versetzt. Die Erschliessungen innerhalb der Anlage erfolgen ausschliesslich fussläufig, die Gebäudezugänge sind jeweils nordseitig angelegt, um den eigentlichen Wohnräumen an der Fassade Präsenz zu verleihen.

Mit Eigenheiten

Beide Mehrfamilienhäuser verfügen über Eigenheiten. Unterschiede gibt es bei der Treppenanlage, die sich bei einem Mehrfamilienhaus innen liegend und beim anderen aussen liegend organisiert, also als Gestaltungselement an der Fassade und wiederum anlehnend an das Berner Bauernhaus. Zusammen bilden sie ein Ensemble, das zwischen der gebauten Umgebung vermittelt und zugleich einen eigenständigen Ausdruck zu behaupten vermag. Und mit ihren individuell wie gemeinsam nutzbaren Aussenräumen erweitern sie geschickt die gegebene Landschaft. Identifikation und Beziehung innerhalb der Örtlichkeit sind essenziell – oder wie Alfred Paul sagt: «Möglichkeiten, die Gemeinschaft zu erleben, wie auch des Rückzugs – beides ist hier gegeben.» Die beiden Mehrfamilienhäuser entwickeln das Siedlungsgefüge subtil und sorgfältig weiter und nehmen dabei historische Elemente mit. Das Architekturbüro schafft damit einen Ort, der Traditionen neu interpretiert. ●

Bautafel

Objekt Mehrfamilienhaus Lerchenweg, Gümligen BE

Fertigstellung 2020

Bauherrschaft Herzog Bau und Holzbau AG

Architektur Marazzi + Paul Architekten AG

Projektleitung Alfred Paul

Mitarbeit René Wäger, Daniel Nähring

Bauleitung Studer Architektur und Bauleitungen AG

Bauingenieurwesen Ingenta AG Ingenieure + Planer

Elektroplanung Fux & Sarbach Engineering AG

Sanitäranlagen Haustechnik Bern AG

Bauphysik und Energiekonzept Zeugin Bauberatungen AG

HLKK Hauenstein U. AG Heizung Lüftung Sanitär

Nettowohnfläche 876 m2

Verbaute Materialien Boden: Parkett Eiche (in sehr natürlicher Erscheinung respektive mit sichtbarem Astanteil); Wand: Grundputz und Weissputz; Decke: Sichtbeton

Wohnungsbau
Durch ihre Kompaktheit generieren beide Mehrfamilienhäuser attraktive, den verschiedenen Zwecken zugeteilte Aussenräume.
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Auf zwei Geschossen und einem jeweils zusätzlichen Attikageschoss entwickeln sich die insgesamt acht Eigentumswohnungen.
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Die aus vorfabrizierten Holzelementen erstellte Fassade wirkt homogen und erzeugt ein ruhiges Äusseres.
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Alle Einheiten verfügen über eigene Sichtbezüge und Verknüpfungen mit der Umgebung.
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Unterschiede gibt es bei der Treppenanlage, die sich bei einem Mehrfamilienhaus innen liegend und beim anderen aussen liegend organisiert.
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Die Erschliessungen innerhalb der Anlage erfolgen ausschliesslich fussläufig.
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Die Wohnwelten sind luftig und lichtdurchflutet und zeichnen sich durch grosszügige Wohn- und Essbereiche aus.
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Die Raumaufteilung berücksichtigt einen durchgesteckten Wohnraum mit Küche und Essbereich.
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Situation Erdgeschoss
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Attikageschoss
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